Darf Strom abgestellt werden trotz Kind

Sehr geehrter Fragesteller,

gerne beantworte ich Ihre Frage auf Grundlage der mir vorliegenden Informationen und unter Berücksichtigung Ihres Einsatzes wie folgt:

Es ist gem. § 19 StromGVV grundsätzlich zulässig, bei einem Zahlungsrückstand die Stromversorgung zu unterbrechen. Voraussetzung ist, daß (1.) Sie sich mit mindestens 100,- € in Zahlungsverzug befinden, (2.) Sie vorher erfolglos gemahnt wurden und (3.) die Stromunterbrechung mindestens vier Wochen vorher angedroht wurde.

Eine Unterbrechung wäre nur dann nicht zulässig, wenn die Folgen der Unterbrechung außer Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung stehen oder der Kunde darlegt, daß hinreichende Aussicht besteht, daß er seinen Verpflichtungen nachkommt.

In Ihrem Fall hängt die Zulässigkeit der Unterbrechung davon ab, ob Ihre negativen Folgen (Flaschenversorgung für den Säugling) außer Verhältnis zum Zahlungsrückstand (650,- €) stehen. Dies wird sicherlich von verschiedenen Juristen unterschiedlich beurteilt werden, so daß eine abschließende Bewertung Ihrer Erfolgsaussichten nicht möglich ist.

Ich empfehle Ihnen, sich mit dem Sozialamt in Verbindung zu setzen, damit dieses ggf. Ihre Schulden übernimmt und Sie die Schulden dem Sozialamt gegenüber in Raten abbezahlen

Ich hoffe, Ihnen eine erste rechtliche Orientierung gegeben zu haben, und verbleibe

mit freundlichen Grüßen

Sonja Richter
- Rechtsanwältin -

Gesetzestext:
§ 19 StromGVV
"(1) Der Grundversorger ist berechtigt, die Grundversorgung ohne vorherige Androhung durch den Netzbetreiber unterbrechen zu lassen, wenn der Kunde dieser Verordnung in nicht unerheblichem Maße schuldhaft zuwiderhandelt und die Unterbrechung erforderlich ist, um den Gebrauch von elektrischer Arbeit unter Umgehung, Beeinflussung oder vor Anbringung der Messeinrichtungen zu verhindern.
(2) 1Bei anderen Zuwiderhandlungen, insbesondere bei der Nichterfüllung einer Zahlungsverpflichtung trotz Mahnung, ist der Grundversorger berechtigt, die Grundversorgung vier Wochen nach Androhung unterbrechen zu lassen und den zuständigen Netzbetreiber nach § 24 Abs. 3 der Niederspannungsanschlussverordnung mit der Unterbrechung der Grundversorgung zu beauftragen. 2Dies gilt nicht, wenn die Folgen der Unterbrechung außer Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung stehen oder der Kunde darlegt, dass hinreichende Aussicht besteht, dass er seinen Verpflichtungen nachkommt. 3Der Grundversorger kann mit der Mahnung zugleich die Unterbrechung der Grundversorgung androhen, sofern dies nicht außer Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung steht. 4Wegen Zahlungsverzuges darf der Grundversorger eine Unterbrechung unter den in den Sätzen 1 bis 3 genannten Voraussetzungen nur durchführen lassen, wenn der Kunde nach Abzug etwaiger Anzahlungen mit Zahlungsverpflichtungen von mindestens 100 Euro in Verzug ist. 5Bei der Berechnung der Höhe des Betrages nach Satz 4 bleiben diejenigen nicht titulierten Forderungen außer Betracht, die der Kunde form- und fristgerecht sowie schlüssig begründet beanstandet hat. 6Ferner bleiben diejenigen Rückstände außer Betracht, die wegen einer Vereinbarung zwischen Versorger und Kunde noch nicht fällig sind oder die aus einer streitigen und noch nicht rechtskräftig entschiedenen Preiserhöhung des Grundversorgers resultieren.
(3) Der Beginn der Unterbrechung der Grundversorgung ist dem Kunden drei Werktage im Voraus anzukündigen.
(4) 1Der Grundversorger hat die Grundversorgung unverzüglich wiederherstellen zu lassen, sobald die Gründe für ihre Unterbrechung entfallen sind und der Kunde die Kosten der Unterbrechung und Wiederherstellung der Belieferung ersetzt hat. 2Die Kosten können für strukturell vergleichbare Fälle pauschal berechnet werden; die pauschale Berechnung muss einfach nachvollziehbar sein. 3Die Pauschale darf die nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartenden Kosten nicht übersteigen. 4Auf Verlangen des Kunden ist die Berechnungsgrundlage nachzuweisen. 5Der Nachweis geringerer Kosten ist dem Kunden zu gestatten."

Darf Strom abgestellt werden trotz Kind

Ein Vater streicht seinem Sohn über den Kopf. (Symbolbild)

Getty Images, Mayte Torres

Der Fall aus der Arbeit von Antje Radusch, einer Schuldnerberaterin aus Sachsen, zeigt, wie groß das Problem der Stromschulden für viele arme Familien ist.

Trotz der Bemühungen der Schuldnerberaterin und einem Antrag vor Gericht wurde einer von Radusch betreuten Familie mit vier Kindern der Strom mitten im Pandemie-Winter abgestellt.

Dabei ist ihr Schicksal nur eines von vielen armen Menschen mit Energieschulden: Zuletzt wurde über 230.000 Menschen in Deutschland der Strom gesperrt.

„Ich kann gar nichts mehr“ oder „Ich weiß nicht weiter“ sind Sätze, die im letzten Telefonat mit einem Vater von vier Kindern fallen, erinnert sich Diakonie-Schuldnerberaterin Antje Radusch, 47 Jahre, aus Sachsen. Zu diesem Zeitpunkt muss ihr Klient mit seiner Familie bereits seit drei Monaten ohne Strom auskommen, obwohl die jüngsten Kinder gerade mal im Kindergartenalter sind.

„Die Familie saß in einer kalten Wohnung, ohne Dusche, ohne Licht und ohne warmes Essen“, erinnert sich Radusch. Das Handy habe er für das Telefonat bei einem Nachbar aufgeladen. Nachdem er die Stromschulden nicht mehr abbezahlen konnte, hatte der Stromanbieter der Familie den Strom abgeklemmt – mitten im Pandemie-Winter, November 2020.

Ein Jahr nach dem Telefonat mit dem Familienvater ist der Kontakt abgebrochen. Schuldnerberaterin Radusch hat bis heute nichts mehr von der Familie gehört, noch ließ sich diese über Briefe oder per Telefon erreichen.

Es ist ein Fall, der zeigt, wie schnell Stromschulden das Leben armer Menschen zerstören können – und wie schwierig es ist, aus solchen Schulden wieder herauszukommen. Zuletzt wurde in Deutschland mehr als 230.000 Menschen der Strom gesperrt, zeigen Zahlen der Bundesnetzagentur aus 2021. „Oft kommen die Menschen kurz bevor ihnen die Energie abgestellt wird, wir sind dann in einigen Fällen machtlos“, sagt Radusch, die den Job seit mehr als 13 Jahren macht. Ohne staatliche Unterstützung bei steigenden Energiepreise lasse der Staat zu, dass ein Teil der Menschen verarme.  

So wie das Ehepaar mit seinen vier Kindern, das Radusch während der Pandemie betreute.

Mit rund 3500 Euro Energieschulden kommt Familie B. zu Schuldnerberatung

Vater B. ist verheiratet, die jüngsten seiner vier Kinder besuchen im ersten Pandemie-Jahr noch den Kindergarten, die übrigen die Schule. Mit seiner Frau und den Kindern lebt er einem winzigen, schlecht gedämmten Haus in einem sächsischen Landkreis. Als er sich im Jahr 2020 zum ersten Mal in der Schuldnerberatung der Diakonie meldet, arbeitet er noch, seine Frau kümmert sich um die Kinder. Nach eigenen Auskünften habe er damals zwischen 1300 und 1500 Euro netto mit einfachen Arbeiten verdient, erzählt Radusch im Rückblick. Demgegenüber standen rund 3500 Euro Energieschulden.

Die Heiz- und Stromschulden von Familie B. haben eine längere Vorgeschichte: Schon 2019 verschuldete sich die Familie um rund 2000 Euro, wie Schuldnerberaterin Radusch in den Forderungen des Stromanbieters einsehen konnte. Die laufenden Abschlagszahlungen hatten den Energieverbrauch nicht decken können. Beraterin Radusch macht dafür auch den Nachtspeicherofen der Familie verantwortlich. Im Schnitt verbrauchen Haushalte mit Nachtspeicher fast dreimal so viel Strom im Jahr wie Haushalte ohne Nachtspeicherheizung. Geld, um auf eine andere Heizform zu wechseln, hat die Familie nicht.

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Beim Stand von 2000 Euro Stromschulden konnte der Familienvater Ende 2019 eine monatliche Ratenzahlung für die ausstehenden Stromrechnungen aushandeln. Dem Stromanbieter musste er von nun an 350 Euro monatlich zurückzahlen. Doch als im darauffolgenden Jahr, 2020, neue Abschlagsrechnungen eintrudeln, fehlt der Familie das Geld, um sie zu zahlen. Die Folge: 2500 Euro Strom-Nachzahlungen für das Jahr 2020.

Mit dem neuen Stand von nun 3500 Euro Energieschulden dauert es nicht lange, bis der Stromanbieter der Familie droht, den Strom abzustellen. Acht bis zwölf Wochen lassen sie Vater B. Zeit zu zahlen. „In den zwei bis drei Monaten hätte der Vater niemals so viel Geld aufbringen können, um die Schulden abzubezahlen“, sagt Radusch. Ein Darlehen vom Jobcenter habe sie zwar mit ihm kurz vor der Stromsperrung noch beantragt, dies sei aber in der Kurzfristigkeit nicht schnell genug und umfassend vom Jobcenter bearbeitet worden. Auch mit dem Energieversorger kann die Beraterin keinen Kompromiss mit Zahlplan aushandeln.

Vor Gericht kann die Familie ihre Stromsperre nicht abwenden

Die letzte Hoffnung von Radusch und ihrem Klienten bleibt schließlich Paragraf 765a in der Zivilprozessordnung: Mit dem Antrag auf Vollstreckungsschutz kann ein Gericht Stromsperren ganz oder teilweise aufheben, wenn es sich um besondere Fälle sozialer Härte handelt. „Da in diesem Fall minderjährige Kinder im November 2020 mitten im Pandemie-Winter von der Stromsperre betroffen gewesen wären, hätte der Fall einen besonderen Umstand sozialer Härte erfüllt“, sagt Radusch. Das Gericht lehnte die Klage trotzdem ab. Begründung: Die Schulden seien zu zahlen. Die Stromsperre sei damit rechtens.

An den Anruf nach dem Gerichtstermin erinnert sich Radusch genau. Vater B. erzählte ihr, wie er und seine Familie mit der Stromsperre leben müssten: Ihren Kindern hätten sie zum Schlafen ein Zelt ins Wohnzimmer gebaut, erzählt die Schuldnerberaterin. Es sei der letzte Ort im Haus gewesen, an dem sich die Familie noch an einem Ofen wärmen konnte. „Sie haben ihren Kindern die Notlage als Abenteuer verkauft“, erzählt Radusch. Zum Duschen und warm essen sei die Familie außerdem zur Oma gegangen. „Zumindest im Kindergarten hatten die Kinder es dauerhaft warm.“

In der Notlage ohne Heizung und Strom versucht Schuldnerberaterin Radusch der Familie psychologisch beizustehen: „Die größte Angst der Familie war, dass ihre Stromsperre publik wird, weil ihnen das Jugendamt sonst womöglich die Kinder weggenommen hätte“, erzählt die Beraterin. Es sei die blanke Hilflosigkeit gewesen. Radusch versucht, mehr Arbeitszeit in den Fall zu legen, zuletzt gibt es für sie jedoch keine Möglichkeit mehr zu helfen, wie sie selbst sagt.

Vater B. habe schließlich einen Bandscheibenvorall erlitten. Auch seinen Job habe er verloren, berichtet er Radusch bei ihrem letzten Telefonat im Januar 2021. Auf Briefe und Anrufe reagiert die Familie danach nicht mehr. „Ich konnte ihn nicht ermutigen, noch weiter für sich zu kämpfen“, sagt Radusch.

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Wann darf der Strom nicht abgestellt werden?

Der Lieferant darf den Strom nicht abstellen, wenn lediglich ein geringer Betrag offen ist – etwa 10 oder 20 Euro. Erst ab einem Zahlungsrückstand von mindestens 100 Euro darf der Stromanbieter die Energieversorgung beenden.

Wie viele Mahnungen bekommt man Bevor einem der Strom abgestellt wird?

der Energieversorger die Stromsperre vier Wochen vorher ankündigt. Diese Ankündigung kann zeitgleich mit der Mahnung erfolgen. der Energieversorger den Verbraucher drei Tage vor der Stromsperre erneut darüber informiert, dass der Strom abgestellt wird.

Was kann ich tun wenn mir der Strom abgestellt werden soll?

Strom abgestellt: So gehen Sie gegen die Stromsperre vor Egal ob die Sperre berechtigt oder unberechtigt ist, nehmen Sie direkt Kontakt zu Ihrem Energieversorger auf. Erklären Sie dem Kundendienst Ihre aktuelle Situation und fragen Sie nach einer Lösung. Eine Ratenzahlung könnte eine mögliche Lösung des Problems sein.

Wann darf der Energieversorger den Strom abstellen?

Zahlungsverzug von mehr als 100 Euro Der Stromversorger darf dem Verbraucher nicht grundlos und ohne Mitteilung die Energieversorgung versagen. Nach Angaben der Verbraucherzentrale kann der Stromanbieter bereits ab einem Zahlungsrückstand von mehr als 100 Euro den Strom oder das Gas abstellen.