Weshalb blieb der 25 november 1973 den deutschen in erinnerung

Ein multimediales Mosaik über den Beginn der Friedlichen Revolution in der DDR vor 33 Jahren, den Mauersturz am 9.11.1989 und die Entwicklung dahin.

07.11.2022 / 9 Minuten zu lesen

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Ab 23.40 wurde "geflutet". Fotoinstallation zur Erinnerung an den 9.11.1989 an der Bornholmer Brücke, sie verbindet heute die Berliner Bezirke Prenzlauer Berg und Wedding. Bis 1989 war dies einer der wenigen Grenzübergänge zwischen West- und Ostberlin. (© bpb / H.Kulick)

Die Maueröffnung am 9. November 1989 war eine zwangsläufige Entwicklung des Geschehens in der DDR im Herbst 1989 - als Folge einer MIschung aus Revolution, Ausreisedruck, Implosion des Machtapparats und Paralyse des DDR-Alltags. Und sie öffnete den Weg zur Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990.

Vorausgegangen war im Sommer 1989 eine anhaltende Ausreisewelle aus der DDR, via Polen, der Tschechoslowakei und vor allem Ungarn. Zugleich wuchsen in der DDR Frust und Bürgermut, die "Friedliche Revolution" nahm ihren Lauf und kulminierte rund um den 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR.

Abgeriegelt für die offiziellen Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Republikgründung, der Palast der Republik. Im Verlauf der Demonstration für Reformen in der DDR gingen Volkspolizei und zivile Beamte der Staatssicherheit zum Teil massiv gegen Demonstrierende und Presse vor, diskutierten aber in den Folgetagen auch in ihren eigenen Reihen, ob dieser Einsatz sinnvoll war. (© picture-alliance/dpa, Heikki Saukkomaa)

Auslöser der Ausreisewelle war der Fall des "Eisernen Vorhangs" in Ungarn, wo DDR-Bürger und Bürgerinnen häufig Urlaub machten. Seit Anfang Mai 1989 wurde dort "aus Kostengründen" der Grenzzaun abgebaut, mit Rückendeckung des sowjetischen Staatsoberhaupts Michail Gorbatschow. Joachim Jauer hat dies 2019 im Deutschlandarchiv hintergründig beschrieben: "Externer Link: Die Mauer fiel nicht in Berlin am 9. November...sondern im ungarischen Hegyeshalom sechs Monate zuvor."

Zu dieser Zeit hatten auch die Bürgerrechtsproteste in der DDR Auftrieb erhalten, denn am 7. Mai 1989 war der SED-Staat dabei ertappt worden, wie die Ergebnisse der DDR-Kommunalwahlen flächendeckend "geschönt" wurden, nachzulesen im bpb-Hintergrundtext Externer Link: "Wahlbetrug 1989 – als die DDR-Regierung ihre Glaubwürdigkeit verlor".

Eine Pflichtwahl ohne "Auswahl". Stimmauszählung in einem Ost-Berliner Wahllokal am 7. Mai 1989 – von DDR-Bürgern kritisch beäugt. (© Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, Bild 89_0507_DDR-Wahl_05 )

Noch blieb die Zahl der von nun an regelmäßig Demonstrierenden aber überschaubar. Das änderte sich, als im Verlauf des Sommers immer mehr Menschen frustriert die stagnierende DDR verließen, allein im Juli und August 1989 mehr als 50.000 Menschen: Externer Link: "Sommer 1989: Die große Flucht aus der DDR". Nun kamen auch Demonstrierende hinzu, die verstärkt für eine Reform der DDR demonstrierten, damit diese wieder attraktiver wird ("Wir bleiben hier!"). Auch (verbotene) Parteigründungen wurden geplant. Die Zahl der "Mutbürger" wuchs, aber auch die Gegenwehr des zunehmend verunsicherten Staats. Peter Wensierski beschreibt diese Entwicklung in Externer Link: "Mutbürger - Ein Rollentausch in Leipzig: Die Stasi im Visier".

Demonstration in der Leipziger Innenstadt am 4. September 1989. Nach nur wenigen Sekunden rissen Stasileute das Transparent herunter. (© Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V. / Armin Wiech)

In den zwei Jahren zuvor war auch in Ost-Berlin eine zunehmend selbstbewusstere Jugendopposition herangewachsen, weitgehend unter dem schützenden Dach einzelner Kirchen, an denen sich die Geheimpolizei Stasi die Zähne ausbiss, hier dokumentiert in einem Fernsehbeitrag vom 2. Dezember 1987 im ZDF: Externer Link: "Stasirazzia in der Umweltbibliothek".

Auch das Ziel der SED die Kirche durch Stasileute zu unterwandern schlug trotz hoher IM-Dichte weitgehend fehl, sie blieb "das Loch im Fahrradschlauch DDR", wie der Ostberliner Pfarrer Rainer Eppelmann Kirche einmal definierte, aufgrund der demokratischen Grundprinzipien und Freiräume, die sie engagierten DDR-Bürger*innen bot.

Demonstration in der Ostberliner Zionskirche Ende November 1987. Videostandbild. (© Robert-Havemann-Gesellschaft & ZDF)

Komplett friedlich blieb die 1989 allmählich einsetzende "Revolution" in der DDR allerdings zunächst nicht. Anfang Oktober 1989 gab es wechselseitig Gewalt durchaus auch von Demonstrierenden, als Eisenbahnzüge mit DDR-Flüchtlingen auf ihrem Weg aus Prag ins westdeutsche Hof DDR-Bahnhöfe passierten. In und rund um Dresdens Hauptbahnhof gab es daraufhin Krawalle, die einzig die Stasi auf Video dokumentierte, zu sehen in dem 30-minütigen Film Externer Link: "Vom Einläuten der Friedlichen Revolution", der 2014 in der Berliner Gethsemanekirche Premiere hatte.

Bei Krawallen vor dem Dresdener Hauptbahnhof in der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober 1989 ausgebranntes DDR-Polizeifahrzeug. (© BArch)

Der Externer Link: halbstündige Dokumentarfilm dokumentiert aber auch aus zahlreichen privaten Quellen, wie Polizei, Staatssicherheit und Betriebskampfgruppen in den Folgetagen auf durchweg friedliche Proteste reagierten, einschüchternd und gewaltsam vor allem rund um den 7. Oktober 1989.

Insbesondere aus solchen Gewalt- und Angsterfahrungen entwickelten sich zahlreiche Initiativen, die in der Folgezeit auf unterschiedlichsten Ebenen für "Dialog" und Gewaltlosigkeit eintraten.

Polizeikette in Karl-Marx-Stadt am 7.10.1989, fotografiert vom MfS (© Polizeikette in Karl-Marx-Stadt am 7.10.1989, fotografiert vom MfS)

Diskussionen über ihren unbeirrten Kurs und Proteste dagegen ließ die DDR-Führung jedoch vor dem 40. Republik-Geburtstag am 7. Oktober nicht zu. Die vergreiste Machtelite der DDR ließ ihn pompös in Ostberlin feiern, mit Fackelzug, Militärparade, Staatsbankett und Lobeshymnen in den staatsgelenkten Medien. Aber erwartete Reformen wie in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow lehnte die SED nachdrücklich ab und desillusionierte damit zunehmend auch ihre eigenen Anhänger und Anhängerinnen, von denen immer mehr ihr Parteibuch zurückgaben. Zugleich bildeten sich ganz neue Parteiinitiativen, denen der SED-Staat aber zunächst eine Anerkennung versagte.

Den 40. Jahrestag der Staatsgründung am 7. Oktober 1989 feierte das SED-Regime mit einer Militärparade und ausländischen Staatsgästen. (© picture-alliance, LEHTIKUVA, Heikki Saukkomaa )

Im Deutschlandarchiv hat der seinerzeitige Mitbegründer der sozialdemokratischen SDP in der DDR, Martin Gutzeit, Gorbatschows Einfluss auf die DDR-Opposition 2022 in einem Nachruf noch einmal eindrücklich beschrieben: Externer Link: "Gorbatschows vergessene, erste Friedliche Revolution".

Als Staatsgast nahm Michail Gorbatschow am 6. und 7. Oktober 1989 höflich distanziert an den hermetisch abgeriegelten Jubiläums-Feierlichkeiten der SED-Führung teil und wurde zum Leidwesen der SED-Oberen beim abendlichen Fackelumzug am 6.10. als vorbildlicher Reformer umjubelt, wie auch das nachfolgende Dokument des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) belegt:

In der DDR spitzelte die Geheimpolizei Stasi nahezu überall. Nicht nur in Kreisen der Opposition, auch in Reihen der staatstragenden Jugendbewegung FDJ (Freie Deutsche Jugend). Diese interne MfS-Information bezieht sich auf die "Aktion Jubiläum 40", die das MfS abzusichern hatte. Am 6. und 7. Oktober 1989 feierte die SED-Führung pompös den 40. Jahrestag der DDR. Ehrengast war der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow, der die DDR-Spitze vergeblich zu Reformen drängte. Nun meldeten Informanten aus der FDJ, dass viele junge Leute planten, bei einem abendlichen Fackelmarsch entlang einer Ehrentribüne "Gorbi, Gorbi!" zu rufen, aber nicht so intensiv SED-Chef Erich Honecker zuzujubeln. Daraufhin mussten sich diesem Dokument zufolge Teilnehmenden schriftlich wieder zur Linientreue verpflichten.

Gegenüber dem Deutschlandarchiv der bpb erläuterte dazu in einer Mail am 2.9.2022 der damalige FDJ-Vorsitzende Eberhard Aurich: "Die Idee, meine Erklärung diesmal von den Teilnehmern unterschreiben zu lassen, war schon Wochen vorher entstanden. Da wussten wir noch nicht einmal, dass Gorbi kommt. Als wir diesen Text den Teilnehmern vorlegten, gab es zwei Wünsche: Streichen eine Eloge auf Erich Honecker und Betonung der Freundschaft zur Sowjetunion, was ich dann gemacht habe. Wir und andere ahnten natürlich die Gorbi-Rufe während des Fackelzuges. Ich fürchtete tatsächlich den Eingriff der Stasi oder der Partei – so wie am 1. Mai, als Gorbi-Bilder entfernt wurden. Ich hatte eine Begrüßungsrede vorbereitet, die namentlich die Gäste nennen sollte: Gorbatschow, Ortega, auch Ceausescu. Am Morgen des 6. Oktober erhielt ich einen Anruf mit dem Auftrag, die namentliche Nennung zu unterlassen. Das hat mich empört. Ich habe daraufhin zwei Dinge getan: Die Rede so überarbeitet, dass ohne namentliche Nennung trotzdem an der richtigen Stelle der Jubel ausbrach und Buh-Rufe unterblieben. Des weiteren habe ich die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen angewiesen, auf keinen Fall Gorbi-Rufe zu unterbinden, sondern der Stimmung freien Lauf zu lassen, wie es ja auch geschah. Auch gab es Hoch-Rufe auf Honecker!! Das Fernsehen hat bei der Life-Übertragung die Gorbi-Rufe unter anderem unterdrückt. Honecker hat sie sehr wohl wahrgenommen, weshalb er sich von mir nicht mal nach dem Fackelzug verabschiedete." (© BArch, MfS, HA II/6/631/89, Blatt 235)

Unmittelbar nach Gorbatschows nachmittäglicher Rückreise nach Moskau kam es am Abend des 7. Oktober zu massiven Schlagstock- und Wasserwerfereinsätzen der "Sicherheitsorgane", sowie zu zahlreichen Festnahmen, aber nicht nur in Ostberlin als "Hauptstadt der DDR", sondern auch in Plauen, Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), Halle, Leipzig und weiteren Orten der DDR. Wagemutige Bürger*innen haben damals Proteste heimlich mit Fotoapparaten, Video- und Schmalfilmkameras dokumentiert, ein Zusammenschnitt davon ist ebenfalls in dem oben erwähnten Externer Link: Video zu sehen, das die heile Welt der DDR-Propaganda nachhaltig konterkariert.

Nachdem die DDR-Sicherheitskräfte am 7.10.1989 im sächsischen Plauen darauf beharrten, ein Feuerwehrfahrzeug als Wasserwerfer zu benutzen, protestierten mehrere Feuerwehren in schriftlichen Erklärungen wegen Zweckentfremdung ihres Löschfahrzeugs. (© BArch, MfS BV-KMS, Abt. XX, Nr. 2733, Blatt 02, Bild 74)

Zwei Aufsätze im Deutschlandarchiv beschäftigen sich mit der Aufarbeitung der rigiden Polizeieinsätze des 7. Oktober, die zahlreiche Ermittlungsverfahren nach sich zogen, diesmal angestoßen von den Opfern staatlicher Polizeigewalt, die in Ostberlin einen Ermittlungsausschuss initiierten. Das war ein Novum in der von der Sozialistischen Einheitspartei (SED) diktatorisch gelenkten DDR. Von einer Externer Link: "Sternstunde des demokratischen Aufbruchs" spricht DA-Autor Andreas Förster, der in seinem Beitrag ausführlich aus den damals dokumentierten Anzeigen zitiert.

Fallsammlung von Polizeiübergriffen am 7. und 8. Oktober 1989 in Ostberlin. (© bpb/kulick)

Bereits im September 2009 widmete sich Klaus Bästlein ausführlich diesem "Letzten Tag der Republik" in der damaligen Printausgabe des Deutschlandarchivs. Interner Link: Hier sein elfseitiges PDF.

Zwei Tage nach dem 7. Oktober hatte der SED-Staat zwar immer noch zahlreiche Sicherheitskräfte mobilisiert, um die sogenannte "Montagsdemonstration" in Leipzig am Abend des 9. Oktober niederzuschlagen. Örtliche Kirchengemeinden und Mitglieder der neu gegründeten Bürgerbewegung "Neues Forum" hatten sie im Anschluss an innerkirchliche "Friedensgebete" geplant. Die SED-Führung ließ aber angesichts der unerwartet großen Zahl von über 70.000 Teilnehmenden davon ab, gewaltsam durchgreifen zu lassen. Jeglicher Befehl blieb aus. Obendrein hatten sich nicht wenige der bewaffneten Kräfte geweigert, Einsatzbefehlen zu folgen, die mit einem Schusswaffengebrauch verbunden gewesen wären. Dies war der Durchbruch der "Friedlichen Revolution", die demonstrativ mit Kerzen statt Waffen in der Hand und mit den Rufen "Keine Gewalt!" ihren Lauf nahm. Die Angst hatte die Seiten gewechselt. Deshalb regen nicht wenige HistorikerInnen an, diesen sehr richtungsweisenden 9. Oktober zu einem offiziellen Gedenktag zu machen.

Heimlich und risikoreich entstanden an diesem Abend in Leipzig Videoaufnahmen, deren Geschichte einer der beiden Kameramänner anschaulich im Deutschlandarchiv beschreibt, Siegbert Scheffke: Externer Link: "Schlüsselmoment der Geschichte: Der 9. Oktober 1989 in Leipzig".

Die Leipziger Montagdemonstration vom 9. Oktober 1989, heimlich vom Kirchturm der Reformierten Kirche aus gedreht. (© Aram Radomski, Siegbert Schefke und Roland Jahn)

Da diese Videoaufnahmen der Proteste in die Bundesrepublik geschmuggelt und vom Westfernsehen auch in die DDR ausgestrahlt wurden, kam es im Dominoeffekt zu anhaltenden Protesten in zahlreichen weiteren Orten der DDR, die durchweg friedlich blieben. Dies regte immer mehr Menschen an, die vorher eher abwartend und ängstlich zu Hause verharrten, sich nun ebenfalls aktiv an den Protesten und aufkeimenden öffentlichen Aussprachen zu beteiligen.

Die Parolen jener Zeit hat die Stasi ausführlich dokumentiert, sorgfältig in einer internen Dokumentation protokoliert, nach Themen geordnet und mit Datum versehen. Die bpb hat dieses Dokument in ihrem Stasi-Dossier online gestellt: Externer Link: "Es lebe die Oktoberrevolution 1989". Gesammelt vom MfS - Parolen der Friedlichen Revolution in der DDR".

"Keine Angst mehr!", als Demo-Parole notiert vom MfS im Herbst 1989 (© BStU, MfS, ZAIG 17084)

Mit eigens initiierten Bürgerdialogen und einem Personalwechsel an der Spitze versuchte die SED noch einmal, die Zügel in der Hand zu behalten, Staatschef Erich Honecker musste am 18. Oktober 1989 abtreten und seinem Parteigenossen Egon Krenz weichen, der sich aber selber nur bis zum 6. Dezember im Amt halten konnte. Honecker wurde in der Folgezeit als dezidierter Schönfärber enttarnt - auch in eigener Sache. Dies rekonstruierte damals die ZDF-Sendereihe Kennzeichen D in ihrem Beitrag Externer Link: "Stasiakte Honecker", abrufbar in der bpb-Mediathek.

Der Mauerfall als logische Konsequenz

Der Fall der Mauer blieb in diesem Prozess nur noch eine Frage der Zeit. Nur rund ein Monat verging, von den Protesten am 7. Oktober bis zum 9. November 1989, als Ostberliner Bürger*innen nach einer missverständlichen Pressekonferenz der SED couragiert in das streng bewachte Grenzgebiet vordrangen und vollkommen friedlich auf der sofortigen Grenzöffnung beharrten - ebenfalls von einem eher zufällig anwesenden Kamerateam dokumentiert. Der damalige Spiegel-Redakteur und Augenzeuge Georg Mascolo hat die Entwicklung an diesem Abend beschrieben: Externer Link: "Die Maueröffner Das Zeitdokument einer historischen Nacht - Der 9. November 1989 in der Bornholmer Straße. Ein Video".

9. November 1989, 23.20 Uhr im Grenzübergang Bornholmer Straße. Die Mauer ist offen. (© Spiegel-TV)

Dass die DDR so rasch ihrem Untergang entgegen ging, hatte allerdings auch finanzielle Hintergründe. Der SED-Staat war nahezu pleite und überlegte bereits, sich eine Variante der Maueröffnung in Bonn im Tausch gegen einen umfangreichen Milliardenkredit zu "erkaufen" und DDR-Bürgern großzügigere Reisemöglichkeiten in Aussicht zu stellen - auch als Reaktion auf die anhaltenden Proteste.

Diese vergeblichen Bemühungen des von der SED beauftragten DDR-Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski in der ersten Novemberwoche um neue Milliardenkredite beschreiben aus unterschiedlichen Perspektiven der Historiker Hans-Hermann Hertle in seiner Recherche Externer Link: "Totalschaden - Das Finale Grande der DDR-Volkswirtschaft 1989" und der Schweizer Bankier Holger Bahl, der damals schon länger hinter den Kulissen als Unterhändler agierte: Externer Link: "Geheimdienste, Zürcher Modell und Länderspiel".

Bürgerprotest für Reisefreiheit am 7. Oktober in Plauen im Bezirk Karl-Marx-Stadt, vom MfS fotografiert (© BStU, BV KMSt, XX-2733; S.1, Bild 46-t)

War dies alles zusammen nun eher eine Revolution? Eine Implosion? Eine Paralyse? Schlicht eine taktische "Wende"? Dies war damals unter ehemaligen SED-Systemanhängern ein häufig benutzter Begriff, den Externer Link: Egon Krenz an seinem ersten Amtstag, dem 18. Oktober 1989, geprägt hatte. Doch dieser SED-interne Machtwechsel führte umgehend zu weiteren Protesten, die am 4. November ihren Höhepunkt erreichten, mehr als eine halbe Million Menschen ging in Ost-Berlin auf die Sraße - aber noch nicht Richtung Grenze, wie fünf Tage später. Für die SED-Machtelite herrschte zu jener Zeit zunehmend Konfusion und Hilflosigkeit beschreibt der damalige FDJ-Vorsitzende Externer Link: Eberhard Aurich, den Funktionären, so beschreibt er, stehen ihre traditionellen Feindbilder und ihr systemimmanenter Autoritarismus im Weg und ihnen fehlt ein offenes Ohr für das eigene Volk.

Wendland - ein Transparent am 4. November 1989 in Ost-Berlin (© Holger Kulick)

Vom Erfolg der ersten Umrundung des Leipziger Ringes am 9. Oktober 1989 beflügelt, erreichte die Politisierung der Bevölkerung ihren Zenit. Bis zum Mauerfall am 9. November wuchs die Zahl der Demoteilnehmer in Leipzig von Woche zu Woche. Gleichzeitig stieg auch die Anzahl der Städte an, in denen montags ebenfalls demonstriert wurde. Am Montag, den 6. November 1989, waren DDR-weit rund 900.000 Menschen auf der Straße, die ihre Angst vor den Angstmachern der Stasi abgelegt hatten. So viele wie an keinem anderen Tag, beschreibt Achim Beier aus Leipzig den Externer Link: "Mythos Montagsdemonstration", den insbesondere eine kleine Leipziger MutbürgerInnen-Gruppe mit langem Atem und viel Kreativität beflügelt hat, wie Peter Wensierski in seinem Buch über die Externer Link: "Leichtigkeit der Revolution" dokumentiert.

Insbesondere gut vernetzte Frauen erweisen sich dabei als ein Motor der Bewegung, beschreiben rückblickend die Bürgerrechtlerinnen Ulrike Poppe und Samirah Kenawi in einem Externer Link: ZeitzeugInnengespräch und die Schriftstellerin Gabriele Stötzer in einem Essay über die Entmachtung der verhassten Stasi, die im Dezember 1989 DDR-weit folgen sollte: Externer Link: "Für Angst blieb keine Zeit".

Besetzung der Stasi-Bezirksverwaltung in Frankfurt (Oder) am 5.12.1989 durch Mitglieder der Bürgerbewegung Neues Forum und Vertreter des örtlichen Bürgerkomitees (© Hartmut Kelm)

Letztendlich ergab sich die Gesamtentwicklung aus einem Gemisch aus vielerlei Faktoren (und auch historischen Zufällen), die sich im entscheidenden Zeitfenster zwischen Anfang Oktober und Mitte November 1989 ergaben - also ein Externer Link: vielfältiges historisches Mosaik.

Selbst am Vorabend des 9. November ahnte auch das Westfernsehen nicht, in welchem Maß die Auflösung der Mauer bevorstand, hier beispielsweise der komplette Mitschnitt des deutsch-deutschen ZDF-Fernsehmagazins Externer Link: "Kennzeichen D" vom 8.11.2022 und im Rückblick eine Externer Link: 3sat-Kulturzeit-Reportage mit O-Tönen von Akteuren und Akteurinnen des 9. November.

Erinnerungsfoto an die Grenzöffnung in der Bornholmer Straße am 9.11.1989. (© bpb / H.Kulick)

Abschließend eine Schlussreflexion des ehemaligen Bürgerrechtlers und späteren Kandidaten für die Bundespräsidentenwahl 1994, dem Molekularbiologen Jens Reich, der darin auch einen Bogen in unsere Gegenwart schlägt: Externer Link: "Revolution ohne souveränen historischen Träger".

Zitierweise: Holger Kulick, „Die Wege zum 9. November 1989. Ein multimediales Mosaik der Redaktion Deutschlandarchiv über den Beginn der Friedlichen Revolution in der DDR vor 33 Jahren", in: Deutschland Archiv, 4.11.2022, Link: www.bpb.de/514057.

ERGÄNZENDER HINWEIS:

kapelle der Versöhnung Berlin

Der Ort des Gedenkens: die Kapelle der Versöhnung im Berliner Mauerstreifen. Sie markiert die Stelle, an der bis 1985 die evangelische Versöhnungskirche stand, aber dann von den DDR-Grenztruppen gesprengt wurde. Das Ziel war ein freieres Sicht- und Schussfeld um Fluchtversuche aus der DDR besser zu vereiteln.

Der Ort des Gedenkens: die Kapelle der Versöhnung im Berliner Mauerstreifen. Sie markiert die Stelle, an der bis 1985 die evangelische Versöhnungskirche stand, aber dann von den DDR-Grenztruppen gesprengt wurde. Das Ziel war ein freieres Sicht- und Schussfeld um Fluchtversuche aus der DDR besser zu vereiteln.

Die Bundeszentrale für politische Bildung (sie wird derzeit 70) war auf Anregung der Redaktion Deutschlandarchiv am 9.11.2022 nicht nur mit einem "Bücherbus" in der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße präsent.

Sie organisierte auch in Kooperation mit der Stiftung Berliner Mauer am 9. November 2022 mittags um 13 Uhr in der Kapelle der Versöhnung eine Diskussionsrunde („Versöhnungsdialog“) mit Eberhard Aurich, dem ehemaligen Vorsitzenden der SED-Jugendorganisation "Freie Deutsche Jugend" FDJ, der im Herbst 1989 gerne „Reformer“ geworden wäre, zeitgemäße Strategiepapiere entwarf, sich aber dann abwartend dem Parteidruck beugte. Er reflektiert und schreibt jedoch seitdem vergleichsweise selbstkritisch darüber, warum er zu lange schwieg. Siehe auch seine Website (https://www.eaurich.de/).

Diskussion mit Eberhard Aurich 9.11.2022 (© bpb / H.Kulick)

Der ehemalige FDJ-Chef Eberhard Aurich (mit Mikrofon) am 9.11.2022 im Zeitzeugengespräch der bpb in der Berliner Kapelle der Versöhnung mit seinem Gesprächspartner, dem evangelischen Pfarrer Thomas Jeutner, der sich in der DDR der FDJ verweigerte. "Zwei Welten – zwei Blasen", kommentierte Jeutner am Ende, "aber 33 Jahre nach dem Mauersturz ein überfälliger Dialog, dem in dieser Kontroversität gerne auch an diesem kirchlichen Ort weitere folgen sollten“. (© bpb / H.Kulick)

Der ehemalige FDJ-Chef Eberhard Aurich (mit Mikrofon) am 9.11.2022 im Zeitzeugengespräch der bpb in der Berliner Kapelle der Versöhnung mit seinem Gesprächspartner, dem evangelischen Pfarrer Thomas Jeutner, der sich in der DDR der FDJ verweigerte. "Zwei Welten – zwei Blasen", kommentierte Jeutner am Ende, "aber 33 Jahre nach dem Mauersturz ein überfälliger Dialog, dem in dieser Kontroversität gerne auch an diesem kirchlichen Ort weitere folgen sollten“. (© bpb / H.Kulick)

Aurichs Gesprächspartner, der in der Kapelle der Versöhnung dessen Sichtweisen hinterfragte, war der ev. Pfarrer der Versöhnungsgemeinde, Thomas Jeutner, der aus Prenzlau stammt und als Jugendlicher die Mitgliedschaft in der FDJ ablehnte. Nach der Schulzeit in Potsdam lernte er Fernmeldemechaniker, verweigerte den Wehrdienst in der NVA und wurde Bausoldat. Nach kurzer Zeit als Student in Wismar wurde er aus politischen Gründen der Hochschule verwiesen. Auf dem Sprachenkonvikt der Evangelischen Kirche in Berlin studierte er Theologie und wurde Pfarrer, sein Bruder verließ derweil frustriert die DDR.