Was man von hier aus sehen kann interpretation

Unser Kolumnist zeigt an Beispielen aus der Literatur, wie kraftvoll die deutsche Sprache sein kann. Folge 67: Mariana Leky über das, was man nicht sehen kann.

04.12.2021, 07.14 Uhr

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Was man von hier aus sehen kann interpretation

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Okapi: »Es sieht irgendwie schlimm nach Winter aus«

Foto:

ARDEA / INTERFOTO

Martin erkannte einen jungen Braunbären, der sich sowohl mit seiner Farbe als auch mit dem Westerwald vertan hatte. Elsbeth sah ein Minishetlandpony, dem wegen der launischen Natur die Hufe fehlten, der Optiker vermutete ein bislang unentdecktes Landsäugetier, und die traurige Marlies, die einen Taschenspiegel herausgeholt hatte und ausführlich ihre Lidränder betrachtete, sah kurz auf und sagte: »Ich weiß nicht, was es ist, aber es sieht irgendwie schlimm nach Winter aus.«

– Mariana Leky, »Was man von hier aus sehen kann«

Zu den Freiheiten der Schriftstellerei gehört, dass man sich als Autor sein Personal nicht nur selbst erschaffen kann – man darf die Leute auch reden lassen, was man will. Irgendetwas, gern auch schöne, auf den ersten Blick entbehrliche Sinnlosigkeiten, die, wenn die Geschichte wirklich funktioniert, auf sehr geheimnisvolle Weise dann doch einen Sinn ergeben, und sei es den, den der Leser hineinliest, weil er Sinnlosigkeit nun mal schlecht aushält.

»Mich interessiert nicht mehr, daß ich sterbe«, sagt beispielsweise ein gewisser Korim in László Krasznahorkais Roman Krieg und Krieg. Und dann, nach einer längeren Pause, schreibt Krasznahorkai, »deutete er auf einen nahen Grubenteich: Sind das dort Schwäne?«

Schön ist das. Sätze, die auf den ersten Blick überhaupt nicht dort stehen sollten und auf den zweiten natürlich schon: Die genau so gesagt werden müssen, die genau an dieser Stelle stehen müssen, weil sich die Absurdität der Welt bisweilen nur durch absurde Äußerungen abbilden lässt.

Als führten die Figuren ein Eigenleben

Gleichgültigkeit und Tod, große Themen also – und dann: Sind das dort Schwäne? Das Interesse Korims an Umwelt und Leben ist wieder da, vielleicht war es nie weg, wer weiß; das Leben geht weiter, wie ja alles immer weitergeht, irgendwie – das ist dann der Trost, den Romane bereithalten: dass jede Geschichte den Keim zu einer neuen Geschichte schon in sich trägt.

Mariana Leky, 1973 in Köln geboren, hatte 2017 mit Was man von hier aus sehen kann einen Bestseller. Ein Dorf im Westerwald, Sichtbares und Unsichtbares, dazu Figuren, die man lange nicht vergisst, wie die ewig schlecht gelaunte Marlies zum Beispiel. Und dann bringt jemand auch noch einen Hund in diese Welt.

»Was ist das?«, fragt einer, und die Frage steht da selbstverständlich nur, damit ein anderer genau das antworten kann, was Hundebesitzer mit unklaren Vorlieben auf solche Fragen immer antworten: »Ein Mischling. Da ist ein Irischer Wolfshund drin.«

Was man von hier aus sehen kann interpretation
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Mariana Leky

Foto: Ekko von Schwichow

Wie Figuren in Romanen zu reden haben, das kann man, gegen Geld, in Schreibschulen lernen. Dialekt ist angeblich erwünscht, Eigenarten überhaupt, dazu ein Maß an Mündlichkeit. Es gehe darum, dem Leben Wahrhaftigkeit abzulauschen, heißt es; ein Irrtum, oft jedenfalls.

Hier, bei Mariana Leky, klingen die Dialoge immer ein wenig so, als wäre die Autorin beim Schreiben von ihrem eigenen Personal überrascht worden. Als führten die Figuren ein Eigenleben; als hätte Leky die Dialoge schon im Ohr gehabt, und die Figuren (in diesem Fall: die herrlich mürrische Marlies, die, in ihrem ausgeleierten Norwegerpulli, nur selten das Haus verlässt) wären ihr dann ins Wort gefallen.

Wem oder was also sieht der Hund ähnlich? Einem jungen Braunbären, der sich in der Farbe vertan hat? Einem Shetlandpony, dem die Hufe fehlen, warum auch immer?

Worauf Marlies, die bisher geschwiegen hat, den großartig sinnlosen Satz sagt: »Ich weiß nicht, was es ist, aber es sieht irgendwie schlimm nach Winter aus.«

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Hauke Goos

Schöner schreiben

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An diesem Satz stimmt alles: Timing, Rhythmus, Tonfall. Die Überraschung, um die es beim Erzählen gehen muss, kommt ja häufig dadurch zustande, dass die Erwartung des Publikums unterlaufen wird. Entweder spricht jemand, dessen vornehme Gesinnung man bewundert, unerwartet vulgär; oder ein anderer, dessen vulgäre Gesinnung man kennt, äußert sich unerwartet wohlerzogen, auch das kann hübsche Effekte zeitigen.

Ein unvergesslicher Satz, Karlheinz Böhm sagt ihn zu Margit Carstensen, die in Fassbinders Ehe-Horrorfilm »Martha« seine Frau spielt: »Ich würde so gerne haben, wenn du ganz schnell ganz braun würdest.« Bevor er, nach einem Schnitt, die nackt auf dem Bett Liegende, schlimm verbrannt am ganzen Körper, vergewaltigt.

Was man von hier aus sehen kann interpretation
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Rainer Werner Fassbinder, »Martha« (1973)

Und Leky, die übrigens in dem Jahr geboren wurde, als Fassbinder »Martha« drehte, hört einfach zu, was in ihrem Buch so geredet wird. Und lässt sich überraschen.

Ein anderes Beispiel, nur ein paar Zeilen weiter. »Ich habe mir doch aber gar keinen Hund gewünscht«, sagt Selma, die Großmutter, nachdem sie lange auf ebendiesen Hund geschaut hat.

»Einen Bildband über Alaska hast du dir ja auch nicht gewünscht«, sagt darauf Elsbeth, »trotzdem wirst du lange Freude daran haben.«

Was man von hier aus sehen kann Worum geht es?

Was man von hier aus sehen kann‹ ist das Porträt eines Dorfes, in dem alles auf wundersame Weise zusammenhängt. Aber es ist vor allem ein Buch über die Liebe unter schwierigen Vorzeichen, Liebe, die scheinbar immer die ungünstigsten Bedingungen wählt.

Was man von hier aus sehen kann Zitat?

Man kann sich die Abenteuer, für die man gemacht ist, nicht immer aussuchen.” “Hier steht, dass jede Erleuchtung mit dem Putzen des Bodens beginnt und endet", sagte er, "wusstest du das?" "Das wusste ich nicht", sagte Selma, "aber ich hatte es gehofft.”

Was man von hier aus sehen kann Martin?

Weide." Und dann springt die Tür auf. Mit einem Unglück, das niemand vorhersehen konnte, und das sich doch auf unheimliche Weise angekündigt hatte, verschwindet Martin aus Luises Leben – und damit endet auch der erste von drei Teilen in Mariana Lekys Roman "Was man von hier aus sehen kann".