Jacques Attali: Die Welt von morgen download

Sein Buch "Die Welt von morgen" ist eine auf Taschenbuchformat zusammengestauchte Universalgeschichte der Menschheit, die zunächst großes Misstrauen erregt. Attali weiß nämlich alles und verkündet es apodiktisch. Für jeden Schritt in der menschlichen Entwicklungsgeschichte hat er ein genaues Datum. 700.000 Jahre vor Christus machte sich der Homo Sapiens in China und Asien den Blitzschlag zunutze und lernte Feuer machen. Vor 300.000 Jahren begann er rituell seine Mitmenschen zu verspeisen.

Da es in dem Tempo weitergeht, gelangt Attali bald ins Mittelalter und in die Neuzeit: Die menschliche Gesellschaft entwickelt Kraftzentren einer merkantilen Ordnung. Er nennt solche Zentren "Herzen" - auf Französisch müsste das besser klingen. Im Unterschied zu den alten Stammes- und Götterordnungen schafft die merkantile Ordnung die Herrschaft des Geldes, und das sei bis heute so. Eine kreative Klasse der Reeder, Händler, Industriellen, Techniker, Bankleute bilde in ihrem innovativen Elan das "Herz" des Fortschritts. Brügge war einst ein solches Herz, Venedig, Antwerpen, Amsterdam, Genua, London, Boston, New York, Los Angeles - immer löste das nächste das vorhergehende ab.

Die EU ist zu lahm

Auch das letztgenannte neunte Herz (Attali zählt taxativ) der amerikanischen Weltordnung pumpert schon manchmal und erzeugt Wirtschaftskrisen, der Autor sieht sein Ende voraus. Elf weitere Großmächte sind dabei, sich polyzentristisch zu etablieren. Die EU gehört nicht dazu, sie ist zu lahm. Das Buch ist bei seiner Mitte angekommen, die Zukunft beginnt. Auch mit ihr geht Attali präzise um. China wird 2025 die zweitgrößte Weltmacht sein.

Der Tod des Imperium Americanum werde dadurch eingeleitet werden, dass sich das Internet selbständig mache und einen eigenen Kontinent bilde. Die USA würden 2025 nicht mehr in der Lage sein, das Gros der Unternehmensgewinne auf dem eigenen Staatsgebiet zu halten. Ein "Hyperimperium" werde heranwachsen. Die Dekonstruktion der öffentlichen Dienste, der Demokratie, des Nationalstaates und der Nationen werde zu seinen Attributen gehören. Etwa um 2050.

Oder sind wir schon so weit, hat der Prozess begonnen? Das Erschreckende an Attalis Zukunftsbild ist, dass es greifbar gegenwärtig wirkt: weltweite Migration von Menschenmassen, Verelendung und Vereinsamung in Großstädten, Energiekrise, Ernährungskrise - alles zusammen Bausteine für den "Hyperkonflikt", den der Autor voraussieht und dennoch nicht für den Untergang hält. Weil die staatlichen Dienste nicht mehr funktionieren, werden private Betreiber für Gesundheit, Polizei, Justiz und Bildung zuständig sein.

Überwachung wird das Schlüsselwort sein, denn die Versicherungen werden überprüfen, ob die Versicherten überhaupt der Norm entsprechen. Also muss jeder sich bemühen, "normal" zu sein, nicht fettleibig, nicht nikotinabhängig, nicht leichtsinnig oder zerstreut. "Jeder wird dann sein eigener Gefängniswärter sein."

Aber (sagt zumindest Attali) da steckt auch Hoffnung drin, nämlich dass sich in dem Kampf der modernen, nomadisierenden Egomanen eine "Hyperdemokratie" herausbilde. Sie werde zur Ökonomie des Altruismus fähig sein. Das wäre eine schöne Erfindung, sie entzieht sich aber jeder Beweisaufnahme. Für das Katastrophenszenario des Hyperkonfliktes gibt es aber schon heute einen Haufen Indizien. Und weil wir davor nicht die Augen verschließen dürfen, ist das Buch lesenswert.

Jacques Attali: Die Welt von morgen. Eine kleine Geschichte der Zukunft. Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet. Parthas-Verlag. 248 Seiten, 19,80 Euro.

An schlechten Nachrichten über das Klima, die Entwicklung der Weltbevölkerung und die wachsende Rohstoffknappheit besteht kein Mangel. Positive Visionen sind selten. Jacques Attali, ehemals Berater François Mitterrands, Wirtschaftswissenschaftler und Romancier, wagt sich – fast – an eine.

Seine Vision ist zunächst finster: Parallel zum Aufstieg neuer Wirtschaftsmächte in Asien und Südamerika stagniere die europäische Wirtschaft. Der Mensch der Zukunft müsse noch mobiler sein, er werde hektischer und einsamer leben – Sesshaftigkeit werde ein Privileg der wirtschaftlich Nutzlosen. Cyberwelten lenken von der Trostlosigkeit dieses Alltags ab und verhelfen der Unterhaltungsindustrie zu enormen Gewinnen. Haushaltsroboter bespitzeln unsere Nachkommen rund um die Uhr.

Dieser Übergangsphase werde sich das „Hyperimperium“ anschließen, in dem der Markt die Demokratie besiegt haben werde. Öffentliche Dienstleistungen werde es global nur noch als Produkte geben, der Konformitätsdruck werde infolge wachsender Kontrollen weiter zunehmen. Nur eine Minderheit von „Hypernomaden“ werde von der Ordnung profitieren. Diese könnten ihr Leben dadurch fast beliebig verlängern, dass sie in ihren Klonen weiterlebten – allerdings würden sie so selbst zum Produkt. Folgt man Attali, so gleicht die Zukunft um 2035 in etwa den bei George Orwell und Aldous Huxley beschriebenen Szenarien.

Dem „Hyperimperium“ folgt der „Hyperkonflikt“ als Abfolge gewalttätiger Kriege weltweit. Demokratien haben hier kaum eine Überlebenschance. Am Ende – etwa von 2040 bis 2060 – werde die alte Welt untergehen und auf ihren Trümmern eine neue Zivilisation entstehen: die „Hyperdemokratie“. Deren Wegbereiter seien die „Transhumanen“, der Konsumwelt abtrünnig gewordene „Hypernomaden“. Dank ihrer biologischen Rolle als Mütter und „Gebende“ seien Frauen in besonderer Weise dazu berufen, eine neue Ökonomie jenseits des Marktes einzuführen. Einige Organe dieser „Hyperdemokratie“ existierten ansatzweise bereits – Nichtregierungsorganisationen, der Internationale Gerichtshof und die EU. Klima und natürliche Ressourcen werden in dieser Welt (wie die kollektive Intelligenz) zum gemeinsamen, unveräußerlichen Erbe, Grundgüter wie Zeit, Luft, Wasser und Wissen seien für alle frei verfügbar.

Am Ende überwiegt der Eindruck, dass der Autor zwar gerne an eine positive Zukunft glauben möchte, es ihm aber nicht recht gelingt. Seine Vision von Krieg und der Allmacht des Marktes sind düster und furchtbar, aber überzeugend. Den eher hastig gezeichneten, positiven Utopien fehlt diese Überzeugungskraft. Elke Kimmel

Jacques Attali:

Die Welt von morgen. Eine kleine Geschichte der Zukunft. Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet. Parthas Verlag, Berlin 2008. 256 Seiten, 19,80 Euro.

Elke Kimmel

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