Was wäre wenn wir alle die gleiche Sprache sprechen würden?

So unterschiedlich die mehr als 7000 Sprachen der Welt auf den ersten Blick erscheinen, so sehr vereint sie eines: Alle folgen grammatikalischen Regeln, die Wörter zu Sätzen zusammensetzen. Egal, ob gesprochen, geschrieben oder gebärdet wird. Woher kommt diese Vielfalt an Sprachen? Und warum ist unsere Sprach­fähigkeit nicht an eine bestimme Form gebunden? Eine kognitions­­wissen­­schaft­liche Betrachtung.

von Patrick C. Trettenbrein & Emiliano Zaccarella

Wenn man umgangssprachlich von „Sprache“ spricht, haben die meisten eine klare Vorstellung davon, was das ist: „Sprache“ ist ein Mittel zur Kommunikation, das was gesprochen oder geschrieben wird. Kognitionswissenschaftler verstehen unter „Sprache“ hingegen meistens etwas anders: Sie sehen Sprache als die universelle Fähigkeit des Menschen, Sprache zu erwerben und zu verwenden – eines der wichtigsten Merkmale, das uns von anderen Tieren unterscheidet. Und diese Fähigkeit ist keineswegs auf Laut- oder Schriftsprache beschränkt.

Sprache ist nicht nur etwas Kulturelles, sondern vor allem etwas Biologisches

Trotz der über 7000 verschiedenen Sprachen weltweit ist die Sprachfähigkeit universell: Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sich die kognitiven und neurobiologischen Voraussetzungen für den Erwerb der unterschiedlichen Sprachen der Welt innerhalb der Weltbevölkerung unterscheiden. Das heißt, ein aus Papua-Neuguinea adoptiertes Kleinkind, das in Hannover bei Adoptiveltern in einem deutschsprachigen Umfeld aufwächst, erwirbt mehr oder weniger automatisch und problemlos das lokal typische Hannoveraner Deutsch. Und umgekehrt. Ein adoptiertes Kind aus Deutschland, das in Papua-Neuginea aufwächst, würde ebenso problemlos und automatisch mindestens eine oder wahrscheinlich sogar gleichzeitig mehrere der dortigen Landessprachen erwerben.

Alle Menschen verfügen von Geburt an über eine Art „neurokognitiven Werkzeugkoffer“, den die verschiedenen Sprachen der Welt dann auf unterschiedliche Weise nutzen. Dieser „Werkzeugkoffer“ befindet sich hauptsächlich im Sprachnetzwerk in der linken Hälfte des Gehirns. Verarbeitet man nun eine sogenannte Tonsprache wie etwa Mandarin, eine Varietät des Chinesischen, werden die Ressourcen des „neurokognitiven Werkzeugkoffers“ etwas anders genutzt als bei einer indogermanischen Sprache. Jeder Mensch kann also prinzipiell jede Sprache der Welt erwerben beziehungsweise erlernen. Hierfür folgen unsere Fähigkeiten einem evolutionär vorgegebenen entwicklungsbiologischen Programm, welches dafür sorgt, dass der Spracherwerb im Kindesalter weitestgehend vollautomatisch vonstattengeht. Im Erwachsenenalter bedeutet das Erlernen einer neuen Sprache hingegen meist erheblichen Aufwand. Grund dafür ist der natürliche Reifungsprozess des menschlichen Gehirns: Bis zur Pubertät entwickelt sich das Sprachnetzwerk in der linken Hirnhälfte und weist somit eine erhebliche Flexibilität auf, die sogenannte neuronale Plastizität. Mit zunehmendem Alter nimmt diese stark ab.

Wörter kann man immer lernen, Grammatik nur bedingt

Doch dieses entwicklungsbiologische Programm wirkt sich nicht auf alle Aspekte unserer Sprachfähigkeit gleichermaßen aus: Neue Wörter lassen sich ein Leben lang gut lernen. Für die Fähigkeit aus den sprachlichen Signalen in seiner Umgebung nicht nur Regelmäßigkeiten, sondern automatisch auch grammatikalische Regeln abzuleiten gibt es jedoch ein engeres Zeitfenster. Die Spracherwerbsforschung und dokumentierte Fälle von sogenannten „Wolfskindern“ zeigen, dass die Fähigkeit automatisch grammatikalische Regelmäßigkeit aus sprachlichem Input abzuleiten nach dem Ende der sogenannten „kritischen Phase“ für den Spracherwerb nur noch rudimentär vorhanden ist. Das dokumentiert der tragische Fall von Genie, einer Amerikanerin, die in ihrer Kindheit schwer vernachlässigt und sozial isoliert wurde. Der Nicht-Erwerb der grammatikalischen Regeln einer Erstsprache innerhalb dieser frühen Phase des Lebens zieht irreversible Folgen nach sich: Obwohl sich Genies Sprachfähigkeiten nach ihrer Rettung durchaus entwickelten und sie viele neue Wörter lernte, produzierte sie Zeit ihres Lebens nur relativ kurze Sätze und hatte Probleme mit grammatikalisch komplexen Konstruktionen.

Doch was passiert, wenn ein Kind zum Beispiel taub geboren wird und somit keinen unmittelbaren Zugang zur Lautsprache hat? Wie bekommt es dann den notwendigen sprachlichen Input? Die Forschung zeigt: Das Wesentliche für den Spracherwerb und die normale Ausbildung des Sprachnetzwerks im Gehirn ist keineswegs das gesprochene Wort. Wichtiger ist, dass Kinder überhaupt sprachlichen Input bekommen – die Form der Sprache ist dabei egal. Das heißt, es macht keinen Unterschied, ob gehörlose Kinder eine Gebärdensprache und hörende Kinder eine Lautsprache als jeweilige Erstsprache erwerben. Dies bestätigt wiederum eine andere wesentliche Erkenntnis der kognitionswissenschaftlichen Forschung seit den 1960er Jahren: Die Einsicht, dass die verschiedenen Gebärdensprachen der Welt vollwertige und eigenständige Sprachen mit eigenem Vokabular und eigener Grammatik sind. Wichtig ist lediglich, dass sich durch den Erstspracherwerb das Sprachnetzwerk ausbildet. Dann ist es auch später im Leben – wenn auch mit etwas Mehraufwand – möglich, Fremdsprachen zu erlernen. Denn alle erforderlichen Teile des „neurokognitiven Werkzeugkoffers“ sind ausgereift und in Verwendung.

Dem Gehirn ist egal, ob Sprache gesprochen, geschrieben oder gebärdet wird

Die neurobiologische Forschung zur Gebärdensprache zeigt, dass diese prinzipiell im selben Netzwerk in der linken Hälfte des menschlichen Gehirns verarbeitet wird wie Laut- und Schriftsprache. In einer Meta-Analyse von Studien mit bildgebenden Verfahren konnten wir dies unlängst bestätigen. Beim Sprachnetzwerk handelt es sich somit um ein Netzwerk, das hauptsächlich sprachliche Informationen wie Grammatik oder Bedeutung verarbeitet. Diese sprachlichen Informationen sind prinzipiell abstrakt und in jeder einzelnen Laut- und Gebärdensprache anders. Die Sprachen der Welt unterscheiden sich ja im Hinblick auf das Vokabular und die Grammatik. Folglich scheint das menschliche Gehirn über ein Netzwerk in der linken Hirnhälfte zu verfügen, welches hauptsächlich diese abstrakten Informationen und Regelmäßigkeiten verarbeitet und uns hilft, einzelne Gebärden oder Wörter zu Sätzen zusammenzubauen. Einzelfallstudien von gehörlosen Erwachsenen, die weitestgehend isoliert und mit nur minimalem lautsprachlichem Input aufgewachsen sind und dann erst im Erwachsenenalter eine Gebärdensprache erlernt haben, zeigen zudem: Fehlt im Kindesalter der sprachliche Input, so haben die Erwachsenen später Probleme mit komplexen Sätzen, denn das Sprachnetzwerk in der linken Hirnhälfte scheint nicht ausreichend ausgebildet zu sein.

Ein weiteres Teil in diesem Puzzle liefern schlussendlich Daten von Menschen die gehörlos und blind sind. Ein bekanntes Beispiel ist die Schriftstellerin Helen Keller, welche in der frühen Kindheit wegen einer Krankheit sowohl das Gehör als auch das Augenlicht verloren hatte. Das hinderte sie allerdings nicht daran, mit Hilfe der sogenannten Tadoma-Methode, die englische Lautsprache zu erwerben. Dabei wird zum Beispiel eine Hand des taubblinden Menschen auf dem Gesicht des Sprechers platziert, um die artikulierten Laute zu ertasten. Untersuchungen ergaben, dass selbst diese Form des indirekten lautsprachlichen Inputs mit einem regulären Spracherwerb einhergeht. Aktuellere Untersuchungen zeigen, dass taubblinde Menschen eine Form der Gebärdensprache bevorzugen, bei der das Gegenüber die Bewegungen der Hände im Raum ertastet. Diese sogenannten taktilen Gebärdensprachen basieren häufig auf den lokalen Gebärdensprachen des jeweiligen Landes oder der Region. Von Taubblinden werden diese in der Regel so angepasst, dass rein visuell wahrnehmbare Aspekte von Gebärden, wie zum Beispiel das Hochziehen der Augenbrauen während eines Fragesatzes, durch Signale ersetzt werden, die auch über den Tastsinn wahrnehmbar sind. Interessanterweise folgen diese Anpassungen auch grammatikalischen Regelmäßigkeiten.

Warum gibt es denn überhaupt so viele verschiedene Sprachen?

Obwohl Sprache natürlich auch ein Mittel zur Kommunikation ist, so bildet den Kern der menschlichen Sprachfähigkeit offenbar die Möglichkeit abstrakte Symbole, egal ob Wörter oder Gebärden, anhand von grammatikalischen Regeln zu neuen komplexeren Repräsentationen zusammenzusetzen. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprachen (Englisch vs. Chinesisch), und den Modalitäten (Laut- vs. Gebärdensprache), erklären sich daraus, dass es sich bei der Sprachfähigkeit um ein evolutionär sehr junges Merkmal unserer Spezies handelt: Die Fähigkeit, komplexe grammatikalische Strukturen zu bilden, hat somit in erster Linie dazu geführt unserer Spezies eine artspezifische Denkweise zu ermöglichen, die wir als spezifisch „sprachlich“ bezeichnen können. In welcher Verbindung diese komplexen, anhand von Grammatik generierten Strukturen zur internen Struktur unseres nicht-sprachlichen Denkens stehen, ist eine offene Frage. Die Diversität der Sprachen der Welt und vor allem die Existenz von Gebärdensprachen deuten darauf hin, dass in der Biologie des Menschen die Form, in der wir unsere Sprachfähigkeit zum Ausdruck bringen, schlicht nicht zwingend festgelegt ist. Verschiedene Sprachen verwenden den universellen „neurokognitiven Werkzeugkoffer“ also auf unterschiedliche Art und Weise.

Wir sind keine sprechende, sondern eine sprachbegabte Spezies

Wir sind im Kern also eine sprachbegabte Spezies, deren Gehirn darauf spezialisiert ist, abstrakte Relationen zwischen einzelnen Wörtern oder Gebärden herzustellen, um sie in Sätzen zu verbinden. Dies passiert primär im Sprachnetzwerk in der linken Hirnhälfte. Die Details der grammatikalischen Regeln sind in jeder Sprache anders und somit biologisch nur indirekt festgelegt und weitestgehend zufällig, beziehungsweise folgen sie historischen Mustern. Wichtig für die normale Ausbildung des Sprachnetzwerks ist einerseits die angeborene Sprachfähigkeit und andererseits der Input im Kindesalter. Die Form von Sprache ist dabei zweitrangig – was auf die durch und durch abstrakte Natur unserer Sprachfähigkeit hindeutet.


Aufruf: Wenn Sie unsere Forschung zur Gebärdensprache unterstützen möchten, können Sie sich hier als Teilnehmer bewerben.

  • Veröffentlicht in: Allgemein, Evolution, Gebärdensprache, Gehirn, Gehör, Kinder, Sprache
  • Schlagwörter: Entwicklung, Evolution, Gebärdensprache, Gehirn, Kleinkinder, Neurowissenschaft, Psychologie, Sprache, Sprachfähigkeit, taktile Gebärdensprache

Veröffentlicht von Patrick C. Trettenbrein & Emiliano Zaccarella

Patrick C. Trettenbrein hat Linguistik, Philosophie und Psychologie in Graz und London studiert. Aktuell ist er Doktorand in der Abteilung für Neuropsychologie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Derzeit konzentriert sich seine Forschung auf die Modalitäts(un-)abhängigkeit von sprachlichen Prozessen. Anders gesagt, er fragt nicht: „Warum können (nur) Menschen sprechen?“ Stattdessen untersucht er die menschliche Sprachfähigkeit als eine artspezifische Denkweise. Dafür führt er vor allem Studien zur Gebärdensprache durch.   •  •  •  •  •   Emiliano Zaccarella hat Kommunikationswissenschafen und Linguistik in Siena (Italien) und Edinburgh (Schottland) studiert und danach im Rahmen der Berlin School of Mind and Brain an der Universität Potsdam im Fach Kognitionswissenschaften promoviert. Derzeit ist er Gruppenleiter in der Abteilung für Neuropsychologie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. In seiner Forschung beschäftigt er sich in zahlreichen interdisziplinären Projekten und Kooperationen hauptsächlich mit der Frage, nach welchen Prinzipien das menschliche Gehirn auditorische und visuelle sprachliche Signale in diskrete Kategorien abstrahiert. Gemeinsam mit Patrick forscht er hierfür auch zur Gebärdensprache.

Warum sprechen wir alle eine andere Sprache?

Die Ursachen dafür liegen vor allem in den vielgestaltigen Verknüpfungen, die zwischen Sprache und unterschiedlichen kulturellen, historischen, umweltspezifischen und sozialen Faktoren bestehen sowie deren Einfluss auf das Leben der Menschen.

Warum gibt es nicht nur eine Sprache auf der Welt?

Die Antwort steckt schlicht in der kulturellen Vielfalt der Menschen, die sich im Laufe der Zeit entwickelt hat.

Wie viele Menschen sprechen mehr als eine Sprache?

Weltweit sprechen mehr als die Hälfte der Menschen mindestens zwei Sprachen, sind also bilingual – Schätzungen schwanken zwischen 60 und 75 Prozent. Viele Länder haben mehr als eine offizielle Sprache; in Südafrika beispielsweise sind es elf.