Was tun wenn das kind von der schule fliegt

Ein Balanceakt für alle. Doch Wald und Tiere haben einen guten Einfluss auf schwierige Kinder.

Solche Kinder sind ein Albtraum für jede Lehrerin und jeden Lehrer. Sie stören den Unterricht, sie prügeln sich, sie schwänzen. Bis die Schulen irgendwann zur härtesten aller Massnahmen greifen: dem befristeten Schulausschluss.

Hunderte von Kindern trifft es jedes Jahr – vor allem Oberstufenschüler, aber nicht nur. Im Aargau beispielsweise war im vergangenen Jahr jeder dritte Betroffene ein Primarschüler. Der Kanton Bern verordnete im letzten Schuljahr 60 Ausschlüsse, zwei davon auf Kindergartenstufe. Weil in der Schweiz die Schulpflicht gilt, braucht es während der maximal dreimonatigen Ausschlussfrist eine Alternative – welche, unterscheidet sich von Kanton zu Kanton.

Viele Berner Kinder, die von der Schule fliegen, lernen Alice Zbinden (56) kennen. Eine Frau in wetterfester Kleidung mit grossem Herz für kleine Störenfriede. Die Pädagogin hat das Projekt Kerbholz gegründet. Jeden Morgen steigt sie in Bern mit einer Truppe der renitentesten Schüler des Kantons ins Postauto und fährt in den Wald. Acht Buben sind es diesmal. Einige sind schon seit Wochen dabei.

Für Malik* ist es der erste Morgen. In Trainerhose sitzt er nach einer halben Stunde Fussmarsch reglos auf der Bank vor der Kerbholz-Hütte. Zwei andere jagen einander durch den Wald. «Renn nicht wie ein Tussi, das provoziert mich», schreit der eine.

Ein Zehnjähriger spaltet derweil Holz mit einem Beil. Der Älteste der Gruppe trägt einen Verband, weil er am Tag zuvor einen Baum mit der Faust traktierte. Malik macht gar nichts. Er sitzt nur da, schaut auf seine Hände. Dann kommen die Tränen.

Kinder ordnen sich nicht mehr ein

Dass schwierige Kinder die Schulen im ganzen Land immer stärker beschäftigen, weiss auch Andreas Walter, Leiter des Volksschulamtes Solothurn: «Ein wichtiger Grund ist die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft.» Kindern falle es immer schwerer, sich einzuordnen.

Oder zu akzeptieren, dass im Schulzimmer über manche Dinge nicht ewig diskutiert wird. Auch in Solothurn gebe es Angebote für Kinder mit massiven Verhaltens­auffälligkeiten. Wann immer möglich, werde aber versucht, sie mit unterstützenden Massnahmen in der Schule zu halten.
Das sieht auch Beat Zemp so, Präsident des Schweizer Lehrerverbandes: «Der befristete Schulausschluss ist ein markanter Eingriff in die Lernbiografie eines Schülers.» Er sei deshalb nur als letzte Möglichkeit zu sehen, nachdem alle anderen Massnahmen nichts gebracht haben.

Alice Zbinden kritisiert gerade das: Oft warten die Schulen zu lange mit einem Time-out. Bis so viel Geschirr zerschlagen ist, dass das Kind später kaum mehr zurück in die Klasse kann. Was aber eigentlich das Ziel sein sollte.

Der Wald ist für Zbinden der richtige Ort, um dies zu erreichen. Bäume und Tiere hätten eine positive Wirkung auf die Kinder. Unterricht gibt es im Kerbholz keinen. Zbinden und ihr Kollege sind einfach da, wenn die Kinder etwas wissen wollen oder Hilfe brauchen.

Plötzlich fragen sie nach Massstab, Stift und Papier

Sobald die kleinen Querulanten verstehen, dass dieses Time-out eine Chance und keine Strafe ist, sei alles gerettet, sagt Zbinden. Sie erlebe Kinder, die sich in der Schule allem verweigert hätten, nun aber plötzlich nach Massstab, Stift und Papier fragten, um Dinge auszumessen und die Resultate zu notieren. Passiere das, schwebe sie abends jeweils aus dem Wald.

Die höchste Quote an Schulausschlüssen hat wohl der Kanton Baselland. Nicht weil die Schüler dort besonders schlimm wären, vielmehr weil der Kanton ein fixes und für Schulen kostenloses Angebot bereitstellt: das Time-out in Münchenstein. Rund 120 Kinder kommen jährlich hierher.

Das Konzept ist anders als in Bern. In Baselland besuchen die Sorgenkinder einen Tag pro Woche den Unterricht und arbeiten während der restlichen vier Tage.

Gründer dieser ersten Schweizer Time-out-Schule ist der Lehrer Heinz Treuer (64). In den vergangenen 17 Jahren hat er ein Netzwerk von rund 200 Betrieben aufgebaut. Sie nehmen Oberstufenschüler auf, die von ihrer Sekundarschule für ein Time-out gemeldet worden sind. Die Unternehmen machen das kostenlos. Warum? «Weil wir als Gesellschaft eine Verantwortung haben für solche Schüler», sagt Ruedi Schumacher von der Schreinerei Domino in Muttenz.

«Arbeit ist eine gute Therapie»

Initiator Treuer: «Arbeit ist eine gute Therapie. Die Kinder bekommen in der Arbeitswelt klare Ansagen.» Ist der Schüler zum Beispiel an einem Tag mit einem Maurer auf der Baustelle, sage der ihm auch mal geradeheraus, dass er ihn für faul halte, wenn er seine Arbeit nicht richtig macht. Authentische Rückmeldungen seien für solche Jugendlichen wichtig.

Zu Pädagoge Heinz Treuer kommen Kinder, die von Sekundarschulen im Kanton Baselland zu einem Time-out angemeldet werden.

Schwieriger ist es, für Primarschüler eine Lösung zu finden. Aber Treuer und sein Team sind erfinderisch: Einen Siebenjährigen haben sie gerade in der Waldspielgruppe untergebracht. Der Erstklässler ist dort so etwas wie ein kleiner Hilfssheriff und hilft den Spielgruppenkindern zum Beispiel beim Schuhebinden.

Bei den Lehrern kommt das Angebot gut an. «Die Time-out-Schule gibt uns Sicherheit», sagt Carol Rietsch (57), Leiter der ­Sekundarschule Aesch. Er könne damit schnell reagieren, wenn die Situation in einem Klassenzimmer schwierig werde.

Skeptisch ist die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm. Sie räumt ein, dass es vereinzelt Schüler gebe, die aus der Schule genommen werden müssen, weil sie für die Lehrer nicht mehr zumutbar sind. Stamm fürchtet aber, dass sich mit dem wachsenden Angebot an Time-out-Projekten heimlich eine Sonderschule neben der Schule bildet: «Gibt es das Angebot, wird es auch genutzt.»

Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm: «Der Normalitätsbegriff wird bei Kindern immer enger gefasst.»

An der Wirksamkeit der Time-outs zweifelt sie. In einer Studie konnte Margrit Stamm nachweisen, dass die Erfolgsquote bei nicht einmal 50 Prozent liegt. Es sei problematisch, wenn Schüler immer schneller in ein Time-out geschickt werden. Auch vor dem Hintergrund, dass der Normalitätsbegriff bei Kindern zunehmend enger gefasst werde.

Alice Zbinden, die mit ihrer Schulschreck-Truppe bei jedem Wetter im Wald ist: «Für mich sind das ganz normale Kinder, die etwas aus der Balance gefallen sind.» So ist es wohl auch bei Malik, dem Bub, der an seinem ersten Tag im Wald weinte. Zwei Wochen später habe er sich gut eingelebt, erzählt Zbinden. Die Bewegung scheine ihm gutzutun, mit seiner ruhigen Art sei er wichtig für die Gruppe. Ihr Fazit: «Cooler Junge!»

* Name geändert

Wie viele Verweise braucht man um von der Schule zu fliegen?

Wie viele Verweise sind als Schüler eigentlich erlaubt? Grundsätzlich lässt sich das nicht exakt beantworten. Jede Schule darf hier eigene Regeln anwenden. In den meisten Fällen führen 2-3 Verweise zu einem verschärften Verweis (Direktoratsverweis) und wiederum 2-3 Direktoratsverweise zur Entlassung von der Schule.

Was bedeutet Klassenleiterverweis Sachsen?

Wissenswertes zum Klassenleiterverweis Der Klassenleiter, also der Klassenlehrer, erteilt aufgrund eines Vergehens des Schülers oder der Schülerin einen Verweis. Ein solches Vergehen kann zum Beispiel Rauchen auf dem Schulgelände, Zerstören von Schuleigentum oder das Werfen von Schneebällen sein.