Wie viele Fahrräder täglich in Amsterdam?

Unfallzahl und Aggression im Verkehr steigen. Die Politik will gegensteuern – mit noch mehr Radwegen. Denn man rechnet damit, dass das Radleraufkommen in Amsterdam weiter steigen wird.

Amsterdam. Die Niederlande sind flach wie eine Palatschinke. Ideale Bedingungen für Radler. Diese geografischen Bedingungen haben die Niederländer genutzt. Sie haben in ihrem kleinen und flachen Land das wohl beste und engmaschigste System von Fahrradwegen angelegt, das es auf der Welt gibt.

Die mit speziellem roten Teer angelegten Fahrradwege überziehen das ganze Land wie ein Spinnennetz. Man braucht sie auch. Denn in Holland gibt es mehr Fahrräder als Einwohner. Es sind schätzungsweise 22 Millionen ,,fietsen (Fahrräder), die auf eine Bevölkerung von 16,5 Millionen Einwohnern kommen. Die niederländische Hauptstadt Amsterdam gilt als das Dorado der Radfahrer, als Prototyp für eine fahrradfreundliche Stadt.

Täglich werden von den zehntausenden radelnden Amsterdamern rund zwei Millionen Kilometer zurückgelegt. Tendenz steigend. Radfahren ist in Amsterdam, aber auch in anderen niederländischen Städten, die ideale Art, sich fortzubewegen. Es geht schnell, es ist umweltfreundlich, und die Abstände in niederländischen Städten sind nicht so groß wie in Wien, Paris, London oder Berlin. Aber die Fahrräder sind inzwischen auch eine Plage, nicht nur in Amsterdam, aber besonders dort: wegen der hohen Fahrraddichte und wegen der vielen Rad-Rowdys, die sich nicht an Verkehrsregeln halten. Sie negieren rot leuchtende Ampeln oder rasen wie Radrennfahrer über die rot asphaltierten Fahrradwege. Folge: Immer häufiger kommt es zu Unfällen mit Radfahrern. In 56 Prozent aller Unfälle in Amsterdam sind heute Radfahrer verwickelt, ein Anstieg von acht Prozent gegenüber dem Jahr 2000.

 

„Uns gehört die Stadt“

Viele Amsterdamer Radler denken: „Uns gehört die Stadt. Wir haben überall Vorfahrt, Vorfahrt gegenüber Autofahrern sowieso.“ Fußgänger müssen oft auf die Seite springen, wenn Radler mit hohem Tempo Zebrastreifen benutzen. Immer häufiger kommt es zu Rangeleien zwischen Radfahrern und Fußgängern, aber auch zur „Kraftprobe“ zwischen Radlern und Autofahrern, bei der die Radler in der Regel den Kürzeren ziehen. Überhaupt hat die Aggressivität im Straßenverkehr in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen.

Auf den sich immer weiter zuspitzenden Konflikt zwischen Fußgängern, Radlern und Autofahrern will die Stadt Amsterdam nun reagieren. Sie hat einen Mehrjahresplan für das Rad entwickelt und will bis 2020 rund 57 Mio. Euro in den Ausbau des ohnehin schon dichten Radwegsystems investieren. Die Radwege sollen verbreitert und erheblich erweitert werden. 38.000 neue Radparkplätze sollen eingerichtet werden. Denn man rechnet damit, dass das Radleraufkommen in Amsterdam jährlich um 20 Prozent bis zum Jahr 2020 weitersteigen wird.

In Amsterdam gibt es mehr Fahrräder als Einwohner. Mikroautos auf Gehwegen werden akzeptiert, wild geparkte Fahrräder abgeschleppt. Warum die Verkehrswende im Nachbarland so viel weiter ist als bei uns

01. März 2022

Redaktion FUTURE MOVES

Wie viele Fahrräder täglich in Amsterdam?

In Amsterdam gibt es mehr Fahrräder als Einwohner:innen. Warum? Foto: Pixabay/djedj

Alle Bürgermeister:innen in Deutschland träumen gerade davon, ihre Städte zu Kopenhagen oder Amsterdam zu machen. Also in Metropolen zu verwandeln, in denen ein ausgewogener Verkehrsmix herrscht und Multimodalität gelebter Alltag ist. Doch die Realität sieht anders aus. Sie wird meist bestimmt von schleppendem Radwegeausbau und vereinzelten Leuchtturmprojekten. Und beim Blick auf den Sehnsuchtsort Amsterdam wird außerdem klar: Dort denkt man schon wieder viel weiter als in deutschen Rathäusern.

Das merkt man bereits, wenn man den Südbahnhof verlässt. Dort sind die Straßen für private Pkw gesperrt, hier rollen nur Elektrobusse und die zahllosen „Fietsen“, die Fahrräder. Am Bahnhof gibt es 9.000 Fahrrad-Stellplätze, viele davon in einer hell beleuchteten Tiefgarage. An einem Mobilitäts-Hub kann man mit einer App wählen, wie man weiterfahren will – per E-Carsharing-Auto, Elektroroller oder natürlich per E-Bike oder Lastenrad. 

Wie viele Fahrräder täglich in Amsterdam?
Gehört ebenso zum Stadtbild: der Canta für Menschen mit Behinderung. Foto: Pixabay/kedass

Das Bike ist und bleibt das Rückgrat der nachhaltigen Mobilität. Das Ranking der fahrradfreundlichsten Städte der Welt, der „Copenhagenize Index“, führt Amsterdam seit mehr als zehn Jahren unter den Top-3. Die etwas mehr als 800.000 Hauptstadt-Einwohner:innen besitzen etwas weniger als 900.000 Fahrräder. Mit ihnen spulen sie pro Tag etwa zwei Millionen Kilometer ab, etwa 40 Prozent des gesamten Verkehrs. Mit dem Bike oder mit Bus und Bahn kommen sie viel schneller voran als mit dem Auto. Das Netz an breit ausgebauten Radwegen mit sicheren Kreuzungen ist 500 Kilometer lang. Dazu kommen viele „Fietsstraaten“, das sind Wohnstraßen, auf denen Fahrräder Vorfahrt haben.

„Es gab keine Revolution bei der Mobilität. Sondern eine Evolution“

Cornelia Dinca, Gründerin von Sustainable Amsterdam

„Amsterdam hat seine nachhaltige Mobilität nicht durch eine Revolution, sondern durch Evolution erreicht“, sagt Cornelia Dinca, die Gründerin des Beratungsbüros „Sustainable Amsterdam“. Schon vor 100 Jahren waren die Niederländer:innen eine Nation von Radfahrern. Aber in den 50er- und 60er-Jahren setzte die Stadtplanung vor allem auf das Auto – bis sich Widerstand in den Vierteln regte, in denen Straßen auf Kosten von Radwegen und alten Häusern verbreitert wurden. Zudem stiegen die Zahlen der Unfälle und der Verkehrstoten stark. 1973 entstand die Kampagne „Stop de Kindermoord“ – sie war ein Wendepunkt für die öffentliche Meinung und in der Verkehrsplanung. „Ein weiterer wichtiger Moment war im Jahr 1992“, berichtet Dinca. „Damals entschied die Bevölkerung von Amsterdam in einem Referendum, das Parken kostenpflichtig zu machen und den Platz für Autos zu beschneiden.“

Wo Licht ist, gibt es auch Schatten, das kann nicht anders sein. In den ganzen Niederlanden werden pro Jahr etwa eine Million Fahrräder geklaut – oder nach dem Abstellen nicht wiedergefunden. Vergessene Bikes vermüllen die Stadt. In Amsterdam schafft die Gemeinde jedes Jahr 75.000 von ihnen fort, von Zeit zu Zeit baggert sie Räder aus den Grachten hoch. Und nicht alle Bewohner:innen freuen sich über die zweisitzigen Microcars für Menschen mit Behinderung, die auf Radwegen rollen und auf Gehwegen parken dürfen.

Wie viele Fahrräder täglich in Amsterdam?
Fietsen-Fischen in einer Gracht in Amsterdam. Foto: Sustainable Amsterdam

Es wird sich immer jemand finden, der an diesem oder jenem etwas auszusetzen hat. In der Summe jedoch ist die Zufriedenheit mit dem Angebot groß, weil Amsterdam auf einen breiten Fächer von Maßnahmen setzt: Mobilitäts-Hubs ermöglichen intermodale Fortbewegung, die Busflotte wird bis 2025 komplett auf E-Antrieb umgestellt. Carsharing-Autos erleichtern den Abschied vom eigenen Pkw. Über 11.000 davon stehen den Amsterdamer:innen zur Verfügung. Zum Vergleich: In Berlin, einer viermal so großen Stadt, sind es 3.000.

Elektroautos und Plug-in-Hybride machen mittlerweile etwa sieben Prozent der Pkw-Flotte der Stadt aus. Sie können an 5.000 öffentlichen Punkten im Stadtgebiet geladen werden. Intelligente Verkehrsleitsysteme erfassen, wo sich Fahrräder, Fußgänger und Autos ballen und wo Straßen und Wege frei sind. Die Daten darüber machen einen besseren Verkehrsfluss möglich und dienen als Grundlage für die künftige Planung.

Wie geht es weiter? „Die individuelle Mobilität soll 2030 emissionsfrei sein“, sagt Cornelia Dinca. Dafür setzt Amsterdam vor allem aufs Fahrrad. Für 200 Millionen Euro entstehen noch mehr Bike-Parkplätze, darunter viele diebstahlsichere, und noch mehr und breitere Radwege. Neue Routen sollen die innere City umfassen und Amsterdams ehemaligen Meeresarm IJ überqueren. Autofahrer:innen hingegen, die schon heute viele Einschränkungen hinnehmen müssen, geraten vom Fegefeuer in die Hölle. Die Höchstgeschwindigkeit wird flächendeckend auf 30 km/h beschränkt. Große Durchfahrtsstraßen werden zurückgebaut oder ganz gesperrt. 11.000 Parkplätze fallen bis 2025 weg – jeder von ihnen macht rechnerisch für zehn Fahrräder Raum. Die ohnehin hohen Parkgebühren steigen weiter, und ab 2030 sind Autos mit Verbrennungsmotor in der City verboten.

„In den Niederlanden gibt es keine Autolobby“

Cornelia Dinca

Wie viele Fahrräder täglich in Amsterdam?
In Amsterdam fahren elektrisch angetriebene und autonome „Roboats“. Foto: Amsterdam Institute for Advances Metropolitan Solutions

Auf dem 80 Kilometer langen Netz der Wasserstraßen wird der Verkehr elektrisch. Schon heute verkehren einige Fähren mit sauberem Antrieb, und 2025 soll eine Flotte aus E-Booten an den Start gehen; diese „Roboats“ können autonom navigieren. Ihre Aufgabe: Passagiere und Waren befördern, Abfall einsammeln und die Wasserqualität kontrollieren. Die ersten Prototypen sind seit Herbst 2021 unterwegs.

Die Zukunft des Verkehrs in Amsterdam hat längst begonnen. Warum kann diese Stadt so viel, was deutsche Städte nicht können? „Dafür gibt es ganz verschiedene Gründe“, sagt Cornelia Dinca. „Einer der wichtigsten ist, dass in den Niederlanden keine bedeutende Automobilindustrie existiert. Und damit gibt es keine Lobby, die sich gegen eine nachhaltige Infrastruktur und Politik wehrt.“

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Wie viele Fahrräder täglich in Amsterdam?

Cornelia Dinca

Cornelia Dinca ist im kanadischen Calgary aufgewachsen, dort lernte sie früher Autofahren als Radfahren. In Vancouver und Amsterdam arbeitete sie an Projekten zu Klimawandel, Abfallmanagement und Urbanismus. 2013 gründete sie die Beratungsfirma „Sustainable Amsterdam“ – sie hilft Städten, die nachhaltiger und sauberer werden wollen. 

Wie viele Fahrräder täglich in Amsterdam?

Evert Verhagen

Evert Verhagen engagiert sich bei „Sustainable Amsterdam“ mit Studienprogrammen und Beratungsarbeit für Regierungsdelegationen, die sich für urbane Transformation und die Entwicklung der Kreativwirtschaft interessieren. Mit über dreißig Jahren Erfahrung in der Arbeit für die Stadt Amsterdam ist er auch als Senior Consultant im Unesco-Programm Creative Cities tätig.

Wie viele Fahrräder stehen in Amsterdam?

Zugegeben: Die Niederlande kennt man als Land der Zweiräder. Dies gilt auch in Amsterdam. Die Metropole beherbergt neben circa 850.000 Einwohner*innen etwa 880.000 Fahrräder.

Wie viele Fahrräder werden jährlich aus den Grachten in Amsterdam gefischt?

In Amsterdam werden jährlich 15000 Fahrräder aus den Grachten gefischt.

Warum fahren in Amsterdam so viele Fahrrad?

Die niederländischen Straßen sind die sichersten der Welt – das gilt zumindest für Radfahrer. Und das, obwohl hier eigentlich nur Radrennfahrer einen Helm tragen. Der wichtigste Grund dafür ist, dass Radfahrer als vollwertige Verkehrsteilnehmer gelten.

Wie viele Fahrräder fallen in Amsterdamer ins Wasser?

Es gibt 1,2 Millionen Fahrräder in dieser Stadt mit nur etwa 821.000 Einwohner. Amsterdam hat über 400 km Fahrradwege und mehrere Abstellanlagen. 25.000 Fahrräder werden jedes Jahr in die Amsterdamer Grachten geworfen oder verschwinden dort.