Die fabelhafte Welt der Amélie Psychologie

Am Anfang von "Die fabelhafte Welt der Amélie" saugt die Titelheldin Himbeeren von den Fingerspitzen - phut, phut, phut - alle zehne, eine nach der anderen. Wir alle kennen das Hochgefühl, Himbeeren in den Mund zu stopfen und langsam mit der Zunge zu zerdrücken - und "Amélie" ist das filmische Äquivalent, ein optischer, akustischer, emotionaler, sogar geistiger Genuss. Und dieser Gutfühlfilm aller Gutfühlfilme kommt ausgerechnet aus jenem Land, das unsere Kinogeduld mit Sozialdramen und Kunstfilmpornos jüngst auf harte Proben stellte: Frankreich.

"Amélie" ist im Innersten zutiefst altmodisch, doch ihre Schale gibt sich resolut postmodern. "Amélie" propagiert das gute alte Paris, verwendet aber die neusten digitalen Tricks. "Amélie" ist eine glückhafte Verschmelzung von Widersprüchen, die Erfüllung unser aller Wunschträume: dass das Leben wieder so einfach werden möge wie einst - aber bitte mit allen Annehmlichkeiten von heute.

Die Geschichte von "Delicatessen"-Regisseur Jean-Pierre Jeunet spielt eindeutig in der Gegenwart, doch sein Montmartre sieht aus, als schlendere gleich Gene Kelly vom "Amerikaner in Paris" um die Ecke. Jeunets digitaler Radiergummi hat es nostalgisch gesäubert von lästigen Graffiti und überquellendem Müll, sein Drehbuchkuli hat sämtliche "unfranzösischen" Figuren gestrichen, mit Ausnahme eines harmlosen arabischen Hilfsverkäufers, und der hört auf den beruhigenden Namen Lucien.

Alles sieht aus, wie es in den Fünfzigern gewesen sein mag, wie es sich die Franzosen zurück wünschen, die Amerikaner in Las Vegas nach bauen und die Deutschen auf Postkarten heim schicken. Und dieses Bilderbuch-Montmartre wird bevölkert von Bilderbuch-Parisern. Da ist die Klatschbase im Zeitungsstand, die Kneipenwirtin, die alles gesehen hat, der erfolglose Schriftsteller, die hypochondrische Tabakverkäuferin, die alleinstehende Concierge und der mysteriöse Alte in der Wohnung gegenüber.

Und natürlich Amélie Poulain, Serviererin Anfang zwanzig; einsam, aber süß; schüchtern, aber auf der Suche nach einem triftigen Grund, weshalb sie dieses Leben eigentlich lebt. Diesen Grund findet sie - wortwörtlich - als sie vom Tode Prinzessin Dianas erfährt und vor Schreck den Stöpsel ihres Parfüms fallen lässt, der über die Fliesen kullert und an eine Kachel stößt, die sich lockert: Dahinter entdeckt Amélie eine Schachtel, in der ein Junge seine Kindheitsschätze deponierte.

Sie beschließt, ihn zu suchen und ihm seine vergessenen Schätze zurück zu bringen. In diesem Moment ändert sie ihr Leben, definiert sich neu - als gute Fee im Verborgenen, die diese Rolle nicht zufällig in jener Nacht übernimmt, als die andere moderne Heilige abberufen wird.

Fortan greift Amélie diskret, aber effektiv ins Leben ihrer Mitmenschen ein. Der seiner Familie entfremdete Vorbewohner, ihr im Rentnermief verkalkender Vater, der schikanöse Obsthändler - sie alle werden von Amélie unmerklich in die richtige Richtung geschubst. Nur dem Schutzengel selbst, das ist seit Lady Di und Mutter Teresa die Regel, bleibt eigenes Glück versagt. So scheint es.

Solch hemmungslose Gutmenschelei balanciert natürlich permanent über einem Fass süßen Sentimental-Sirups, wie man sich vom tränentriefenden amerikanischen "Glücksprinzip" aus dem Frühjahr noch schaudernd erinnert. Darin liegt das Wunder dieser Sahneschnitte aus der Traumfabrik à la française: Wovon erzählt wird, das ist überzogen mit dem rosa Marzipan der Nostalgie - aber wie davon erzählt wird, das ist Stand der Kunst, mit Tricks aus dem Computer, abrupten Schnitten, raffinierten Kamerafahrten, extremen Großaufnahmen und strategisch verstärkten Geräuschen.

Beispiel Dianas Erbe: Kaum hat seine Heldin Gefallen an der Wohltäter-Rolle gefunden, schickt Jeunet die Parodie hinterher; in einem Traum sieht Amélie einen Wochenschau-artigen Nachruf auf sich selbst, den viel zu früh verblichenen Engel der Armen und Rechtlosen.

Beispiel Tränendrüse: Irgendwann begegnet Amélie doch ihrem Traumprinzen - und verliert ihn wieder. In hochgradigem Selbstmitleid bricht sie nicht nur in Tränen aus, sondern Jeunet löst den ganzen Körper Amélies buchstäblich in Tränen auf; selten ist ein digitaler Effekt so sinnvoll, so überraschend und so poetisch eingesetzt worden.

Natürlich ist sie Sekunden später wieder intakt, denn Jeunet weiß, dass der Zuschauer weiß, dass er sich nur einen Gag erlaubt hat. "Die fabelhafte Welt der Amélie Poulain" ist voll von Gags, voll solcher Spielereien. Hollywood-Filme werden heute in die erzählerische Zwangsjacke gepresst; alles, was von der schnurgeraden Handlungslinie abweicht, wird ausgejätet.

"Amélie" hingegen bricht wie ein kapriziöses Füllen (was zufällig auf Französisch "poulain" heißt) ständig aus und nimmt sich Zeit, völlig Nebensächlichem nachzugehen: etwa der statistischen Frage, wieviel Paare in Paris in just jenem Moment ihren Klimax erreichen.

"Amélie" ist nicht nur nostalgisch, sondern zugleich romantisch, surreal, post-modern und voll poetischem Realismus, kurz: ein Kompendium des Französisch-Seins im 20. Jahrhundert. Die Spur beginnt vor 100 Jahren bei Auguste Renoir (dessen Bild "Le déjeuner des canotiers" eine zentrale Rolle spielt), setzt sich fort am Canal St. Martin (wo Marcel Carnés "Hôtel du Nord" spielte und Amélie ausspannt), führt zu einer Schmeißfliege in die Rue St. Vincent (der Jean Renoir in "French Can-Can" ein berühmtes Chanson widmete), streift die Nouvelle Vague (Claire Maurier, die Bistro-Chefin, war die Mutter in François Truffauts "Sie küssten und sie schlugen ihn"), nähert sich der Gegenwart von Philippe Delerms Kultbuch "La Premiere Gorgée de bière" (über die bescheidenen Genüsse). Und - ein rarer Brückenschlag über den Rhein - in seiner Besessenheit mit Gedächtnis, Zufall und Schicksal erinnert "Amélie" zeitweise an Filme Tom Tykwers.

Sicher, "Amélie" ist ein wohliges Bad in der fabelhaften Welt eines vergangenen Frankreich. Aber es ist auch Angebot zur Identifikation weit über die Trikolore-Grenzen hinaus. "Wir leben in einer Zeit ohne große Ideale", definiert der Regisseur seine Grundidee, "da verlegt man sich am Besten auf die kleinen Freuden." Deshalb hat Jeunet seinen Figuren "Mag / mag nicht"-Listen mit auf den Kinoweg gegeben. Amélie mag es, ihre Hand in einen Getreidesack zu stecken, auf der Pizza mit dem Löffel zu matschen und Steine übers Wasser hüpfen zu lassen. Sie mag es, wenn Lucien den Chicorée wie etwas Wertvolles anfasst und dass ihr Künftiger ein Album voll zerrissener Passbilder anlegt.

"Die fabelhafte Welt der Amélie" ist die schönste Eskapismus-Wolke seit langem am Kinohimmel. Präsident Chirac (konservativ) erbat eine Privataufführung im Elysée, der Bürgermeister von Montmartre (sozialistisch) versprach allen Wählern eine Gratisvorstellung, und 7,5 Millionen Franzosen haben an der Kasse gezahlt. Hätten sie die Wahl, würden sie die gerade als "Marianne" in allen Amtsstuben installierte Laetitia Casta hinauswerfen und durch Amélie ersetzen. Durch Audrey Tatou genauer gesagt, welche die Rolle übernahm, als die ursprünglich vorgesehene Emily Watson (daher Amélie) nicht konnte. Audrey spricht sich "Totu" und verdient ihren Vornamen mehr als jede seit Audrey Hepburn.