Wie erkennt ein Baby seine Eltern?

Ein Säugling hat in der Regel noch keine konkrete Erinnerung an das Aussehen der Mutter oder anderer Kontaktpersonen. Er ist noch nicht in der Lage, Eigenarten der Beziehung zu verschiedenen Kontaktpersonen zu unterscheiden. Hat er ein Bedürfnis, das er alleine nicht zufrieden stellen kann, weint er. Das Umfeld reagiert auf das Weinen. Da das Baby in den meisten Fällen richtig verstanden wird, entwickelt sich das so genannte Urvertrauen. In den ersten Lebensmonaten kann eine andere Person in die Rolle der Mutter schlüpfen, ohne dass das Baby die Mutter vermisst.

Etwa ab dem 7. Lebensmonat mit dem Einsetzen des so genannten Fremdelns ändert sich das. Das Kind erwartet den Anblick der Mutter und ist enttäuscht, wenn es jemanden anderen zu sehen bekommt. Es hat eine Vorstellung davon entwickelt, dass die Mutter auch dann existiert, wenn es sie nicht sieht und erinnert sich an das äußere Erscheinungsbild der Mutter. Dieses kann es vom Erscheinungsbild anderer Personen unterscheiden.

Hat das Kind eine Vorstellung von der Existenz und von dem Bild der Mutter gewonnen, beginnt es andere Personen von ihr zu unterscheiden. Es erkennt beispielsweise den Vater als eine äußerlich verschiedene Person von der Mutter. Nachdem es die äußerlichen Unterschiede genauer wahrnehmen kann, ist es auch in der Lage verschiedene Personen mit verschiedenen Rollen und Eigenschaften in Zusammenhang zu bringen.

Das ist bei allen Säuglingen so: Sie können nicht genug von der Zuwendung einer lieben Person bekommen, die sich verlässlich um sie kümmert, ihnen zu trinken gibt und sie tröstet. Sie können sich nicht satt riechen am Hautgeruch dieses fürsorglichen Menschen, wollen ihn ständig um sich haben, von ihm gehalten, getragen und bewegt werden. Körperkontakt ist ihnen in diesen ersten Lebenswochen fast alles.

«Von der innigen Bindung zu einer Bezugsperson, anfänglich ist das vor allem die Mutter, hängt das Überleben eines Kindes ab», erklärt Alexander Grob, Professor für Entwicklungspsychologie an der Universität Basel. «Neugeborene müssen das nicht lernen, sondern wissen es instinktiv.» Sie sind geborene Kontaktknupfer.

Die Wissenschaft nennt dieses biologische Programm das «Bindungsverhalten» eines Babys. Beschrieben wurde es erstmals in den 50er-Jahren vom britischen Arzt und Psychoanalytiker John Bowlby, dessen Erkenntnisse für die moderne Entwicklungspsychologie eine zunehmende Bedeutung haben. Als gesichert gilt heute: Kinder brauchen die mehr oder weniger ständige Präsenz eines einfühlsam reagierenden, fürsorglichen Menschen, der ihre Entwicklung anstösst; der mit ihnen redet, lacht, spielt und ihnen Geschichten erzählt.

Nur auf diese Weise kommen die Lernprogramme, die in einem Kind angelegt sind, überhaupt in Gang. Eine solche Bezugsperson braucht kein Zertifikat in Kleinkinderziehung, sie muss jedoch vertraut, verlässlich und verfügbar sein. Wenn diese «drei V’s» erfüllt sind, entsteht automatisch eine enge Bindung zum Kind.

Die Stunden nach der Geburt

Eine Zeitlang glaubte man, absolut entscheidend für die Qualität der Eltern- Kind-Beziehung seien die unmittelbaren Stunden nach der Geburt. Man hatte dabei die Erkenntnisse des berühmten Verhaltensforschers Konrad Lorenz vor Augen, der in seinen Experimenten zeigen konnte, dass Enten- oder Gänsekuken nach dem Schlüpfen jenem Lebewesen folgen, das sie als erstes zu Gesicht bekommen. Normalerweise ist das die Enten- oder Gänsemutter.

Ist es aber ein Mensch, wie in Lorenz’ Experiment, so binden sich die Kuken an ihn als Ersatzmutter. «Prägung» heisst dieser Vorgang in der Biologie, auf Englisch «Bonding». Ähnliches ist von Ziegen und Schafen bekannt: Bei diesen Tieren werden Mütter direkt nach der Geburt auf den Geruch ihrer Kinder geprägt, sobald sie das Fruchtwasser von ihnen ablecken. Wird ein Junges unmittelbar nach der Geburt der Mutter weggenommen und ihr nach einer Stunde wieder zurückgegeben, ist sie nicht mehr bereit, es anzunehmen.

Manche Wissenschaftler und Ärzte glaubten nun, auch bei den Menschen sei das «Bonding» – also die unmittelbare Kontaktaufnahme zwischen Eltern und Kind nach der Geburt – eine unverzichtbare Voraussetzung für das Entstehen von Liebe. In den Spitälern schaffte man – zum Glück – die unfreundlichen zentralen Säuglingszimmer ab und liess fortan die Neugeborenen bei ihren Müttern im Zimmer (Rooming-in).

So erfreulich diese Entwicklung war: Die dem «Bonding» zugeschriebene Bedeutung ist ein Irrtum, wie man heute weiss. Die Stunden rund um die Geburt sind zwar für Eltern ein einzigartiges emotionales Erlebnis, aber sie spielen für die spätere Beziehung zum Kind keine Schlüsselrolle.

Bindung als den kleinen und grossen Erfahrungen

Remo Largo, der am Kinderspital Zürich jahrzehntelang die kindliche Entwicklung erforschte, schreibt, die Bindung zwischen Eltern und Kind entwickelten sich aus den unzähligen kleinen und grossen Erfahrungen, die sie über Monate und Jahre miteinander machen werden: «Beim Menschen gibt es keine Mutterliebe auf den ersten Blick.»

Trotzdem dreht sich anfangs alles um die Mutter. Sie ist zwar nicht die einzige, aber aller Wahrscheinlichkeit nach die erste Person, zu welcher ein Baby in den Monaten nach seiner Geburt eine Bindung aufbaut. Sie spricht am ehesten auf die frühkindlichen Bedürfnisse an, sie ist die Erste, die ihr weinendes Baby mit ihrem Gesicht, ihrer Stimme, mit der Milch beruhigen kann.

Für dieses Privileg, die engste Bezugsperson zu sein, muss sie sich nicht einmal sonderlich anstrengen, es fliegt ihr sozusagen in den Schoss. «Babys sind Mütterexperten», schreibt Blaffer Hrdy. «Schon Embryonen werten die ‹mütterliche Chemie› aus und beginnen, die Lautäusserungen der Mutter zu registrieren.»

Nach der Geburt lernt das Baby die Mutter kennen

Nach der Geburt lernen Säuglinge ihre Mutter noch besser kennen. Sie prägen sich ihren Geruch ein und beurteilen ihre Blicke, ihre Wärme, den Klang ihrer Stimme und sie lernen, die mütterlichen Signale von Zuwendung zu verstehen und auszuwerten.

Bindung ist für Babys in den ersten Lebenswochen vor allem eine körperliche Erfahrung. Und was passiert bei der Mutter? Laut Blaffer Hrdy hat «Mutter Natur» auch bei ihr dafür gesorgt, dass sie die Bindung zu ihrem Kind aufnimmt.

Schon in der Schwangerschaft stellt sich der Hormonhaushalt einer Frau entsprechend um – ein Prozess, der bei der Geburt und dem einsetzenden Milchfluss erst recht in Gang kommt. All dies trägt zur innigen Liebe bei, die eine Mutter in den allermeisten Fällen für ihr Baby empfindet und die ihr hilft, seine Bedürfnisse zu befriedigen.

Mit ihrem vergleichsweise grossen Kopf, der hohen Stirn und dem winzigen Gesichtchen lösen Babys bei ihren Eltern und anderen Erwachsenen zudem das Verlangen aus, sie auf die Arme zu nehmen und zu liebkosen. «Kindchenschema» hat Konrad Lorenz diese physischen Reize bei Menschen- und Tierbabys genannt.

Bindung heisst Vertrauen

«Die prägendsten Bindungserfahrungen Macht ein Kind in den ersten beiden Lebensjahren», erklärt Entwicklungspsychologe Grob. In dieser Zeit lernt es, was Vertrauen ist. Bei seiner Bezugsperson fühlt es sich geborgen und auf gehoben, sie dient ihm als sichere Basis, von der aus es, sobald es robben oder kriechen kann, die nähere Umgebung erforscht.

«Das Kind zeigt Unbehagen und Angst, wenn die vertraute Person weggeht, und zeigt sich fremden Personen gegenüber abweisend», so Grob. Trennungsangst und «Fremdeln» sind nichts Ungewöhnliches, sondern verlässliche Zeichen dafür, dass das Kind sicher an seine Hauptbezugspersonen gebunden ist.

Vom 2. bis zum 5. Lebensjahr erweitern Kinder ihr Beziehungsnetz. Sie besuchen eine Spielgruppe, vielleicht eine Kinderkrippe und knüpfen Kontakte zu anderen Kindern und Erwachsenen. Noch immer aber sind die Eltern die sichere Basis. Auch langfristig sind sie für ein Kind als verlässliche Bezugspersonen unentbehrlich.

Feingefühlig sein heisst auch, dem Kind etwas zumuten

Nach Bowlby müssen Eltern und andere Bezugspersonen vor allem Feinfühligkeit aufbringen. Je feinfühliger eine Mutter, ein Vater die Bedürfnisse eines Kindes zu befriedigen imstande sei, desto sicherer sei die Bindung.

Doch Eltern fragen sich manchmal: Heisst feinfühlig zu sein, dem Kind jeden Wunsch von den Lippen abzulesen? Es vor allen Widrigkeiten zu schützen, Ecken und Kanten immerzu abzuschleifen? Sicherlich nicht. «Feinfühligkeit bedeutet auch, dem Kind etwas zuzutrauen und es zu Neuem zu ermutigen, kurz: sensibel dafür zu sein, was ein Kind kann», sagt Heidi Simoni, designierte Leiterin des Marie Meierhofer-Instituts in Zürich.

«Würde man es zum Beispiel beim Gehenlernen vor allen Frustrationen schützen, käme es nie auf die Beine.» Wenn ein Kind mobil wird, beginnt es, sich der Welt zu stellen. Und genau hier beginnt die Bindungssicherheit eine zentrale Rolle zu spielen: Je sicherer ein Kind an seine Eltern gebunden ist, desto grösser ist sein Selbstvertrauen, die Welt zu erforschen.

Wenn sich Kinder zum Beispiel auf dem Spielplatz viel getrauen und diesen erkunden wollen, ohne ständig an der Mutter zu kleben, dann ist dies ein gutes Zeichen für die Mutter-Kind-Beziehung. Das ist deshalb so wichtig, weil aus sicher gebundenen Kindern später eher gute Schülerinnen und Schüler mit einem intakten Sozialgefühl werden.

Glückliche Kinder

«Glücklich sind diejenigen Kinder, die viel dürfen», sagte dazu der emeritierte Basler Entwicklungspsychologe Gerhard Steiner, «dann wird auch emotional viel in Bewegung gesetzt.»

«Viel dürfen» kann heissen, in der Küche Schubladen ausräumen, beim Staubsaugern oder Spülen helfen, Windeln bereit legen, Treppen steigen oder den Garten erkunden (ohne dabei in Gefahr zu geraten!), im Wasser plantschen, in Büchern blättern, Möbel verrücken und vieles mehr, ohne dass die Eltern das Kind ständig bremsen. So lernen Kinder, die Andersartigkeit von Dingen kennen.

Und durch positive Rückmeldungen der Eltern werden sie motiviert, noch mehr zu wollen. Es scheint wie ein Widerspruch, ist aber keiner: Als Mutter und Vater ein Kind an sich zu binden heisst, es auch gehen zu lassen; ihm die Möglichkeit zu geben, auf reiche Art Dinge einzuüben und Erfahrungen zu sammeln. Oder, wie ein bekanntes Sprichwort sagt: Kindern soll man nicht nur Wurzeln geben, sondern auch Flügel.

Buchtipp

Sarah Blaffer Hrdy: Mutter Natur, Bloomsbury Berlin, Fr. 34.50

Wann erkennt ein Baby seine Eltern?

Schon mit etwa zwei Wochen können sie die Gesichter ihrer Eltern erkennen. Damit die Babys ihre Hände sehen, müssen sie nicht nur ausreichend Sehkraft entwickelt haben, sondern auch wissen, dass sie überhaupt Hände besitzen. Üblicherweise nehmen sie diese im Alter von sechs bis acht Wochen erstmals wahr.

Wann erkennt ein Baby seinen Vater?

Es lässt sich während der ersten 6 Monate eindeutig erkennen, dass das Kind seinen Vater von seiner Mutter unterscheiden kann und mit beiden Eltern auf verschiedene Art zu kom-munizieren vermag.

Wie sieht ein Baby seine Eltern?

Bereits das Neugeborene kann sehen Es zeigt besonderes Interesse für das menschliche Gesicht: Es betrachtet und mustert mit Vorliebe das Gesicht von Vater oder Mutter und sucht den Blickkontakt mit ihnen. Die beste Sehschärfe liegt zunächst in einem Abstand von 20 bis 25 cm vom Auge.