Wenn es jeder haben kann will ich es nicht

Vor ein paar Tagen war ich in einer weit entfernten, sehr kleinen Stadt, in der Menschen leben, die mir sehr nah sind, aber deren Leben meinem trotzdem ganz fern zu sein scheint. Sie haben Häuser. Und Gärten. Und Kinder. Und sind verheiratet mit Menschen, denen man sofort den eigenen schwer asthmatischen Hund anvertrauen würde.

Man backt sich sein eigenes Brot, und wirkt gesund, und aufgehoben. Die Menschen erzählten mir all das, und gingen davon aus, dass ich – der Großstadtmensch mit dem mediennahen Leben – das alles ganz, ganz langweilig finden würde. Und so hatte ich alle Sätze voll zu tun, immer wieder meine Wahrheit zu bekräftigen, dass ich das im Gegenteil wahnsinnig erfrischend finde, denn da, wo ich lebe und verkehre, backt niemand Brot.

Aber jeder sein eigenes Ding.

Ich wurde ein wenig schwermütig, aber die Menschen um mich herum dann irgendwie auch, denn sie fanden mein Leben in der großen Stadt mit all seinen Freiheiten wahnsinnig spannend.

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Himmel, so ohne Kinder, da kann man ja jeden Tag bis zwei Uhr ausgehen, sagten sie.

Und ich nickte, ich sagte, ich kann sogar bis drei Uhr ausgehen.

Bis vier, fragten sie zurück.

Und ich sagte, ja, auch bis vier.

Irgendwer stimmte dann das „f“ von fünf an, und ich sagte, nein, also da muss ich dann wirklich schlafen, ich bin ja kein Kind mehr.

Irgendwie kamen wir dann bei dem Konsens an, dass es wohl egal ist, was man macht, man wird die direkte Alternative dazu immer ein bisschen idealisieren. Einfach um etwas zu haben, wonach man sich sehnen kann, denn was soll man sonst machen?

Wenn alle Fragen beantwortet sind, muss man wenigstens so tun, als würde man sich noch welche stellen.

Das ist Leben.

Oder?

Ich wollte es genauer wissen, und wandte mich an Judith Mangelsdorf, eine Psychologin der Deutschen Gesellschaft für Positive Psychologie, und wurde natürlich sofort in all meinen Annahmen enttäuscht. Denn das, was ich für universell hielt, ist offenbar gar nicht universell. Frau Mangelsdorf erklärte mir, dass sich wirklich nicht alle Menschen immer nach dem sehnen, was sie nicht haben. „Das machen nur Menschen, die eine eher niedrige Lebenszufriedenheit haben“, sagte sie.

Und ich ließ diesen Satz so stehen, hüllte mich darin ein, wie in einem dicken Teppich, und war bereit, in dem sehr großen Treppenhaus des sehr großen Hauses, in dem ich wohnte, in den Keller hinabzurollen.

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Quatsch, sagte ich. Irgendwo auf meinem Schreibtisch hatte ich meinen Schneid wiedergefunden. Nein, also Frau Mangelsdorf, das können Sie mir eigentlich nicht erklären, sagte ich, dass jetzt alle Menschen ständig sehr zufrieden sind mit dem, was sie haben und machen. Das kann nicht sein. Also stimmte das, würde das zumindest bedeuten, dass ich einen sehr seltsamen, wenn nicht merkwürdig, traurigen Freundeskreis hätte, denn da ist eigentlich niemand so richtig zufrieden.

Frau Mangelsdorf lachte.

Zufriedenheit, erklärte sie, ist im Wesentlichen eine Frage des Fokus. Fokussiert man sich auf die Dinge im Leben, die funktionieren, oder auf die die nicht funktionieren?

„Dass es Ihnen so vorkommt, als würden sich alle Menschen eher auf das konzentrieren, was nicht funktioniert, ist evolutionsbiologisch zu erklären“, sagte sie. „Also wenn ein Tiger auf der Wiese herumläuft, fokussiert sich der Mensch auf den Tiger, und nicht auf die schöne Blume, die auch auf der Wiese steht, einfach weil es für das Überleben wichtiger ist, die Gefahr im Blick zu haben, als das Schöne.“

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Er lohnt sich heute natürlich nicht mehr. Denn den allermeisten Menschen, mit denen wir so Tür an Tür wohnen, geht es einigermaßen gut. Denn solange es eine gewisse Grundsicherung gäbe, also genug zu Essen, keine Not, sei Zufriedenheit eben eine reine Frage des Fokus.

Frau Mangelsdorf zählte mir dann die 5 Faktoren für Zufriedenheit auf:

Ein Job, der den eigenen Stärken entspricht. Geld sei dabei weniger bedeutsam, wichtiger sei, ob das, was man mache den eignen Fähig- und Möglichkeiten entspreche.

Faktor 2 sei Beziehungen. Die obersten 10 Prozent der Zufriedensten aller Menschen seien laut Studien in Partnerschaften oder verheiratet, dahinter folgten die Singles, und am latent unzufriedensten seien die Geschiedenen.

Ich musste Frau Mangelsdorf unterbrechen: „Sind Menschen, die sich einmal haben scheiden lassen, dann quasi für immer unzufrieden? Oder sind diese Geschiedenen aus der Studie die frisch Geschiedenen?“

Frau Mangelsdorf sagte, also sie gehe schon davon aus, dass es relativ frisch Geschiedene sind, und führte dann weiter aus, dass man Beziehungen natürlich aber auch durch sehr gute Freundschaften teilweise ersetzen könne. Also wenn man mindestens zwei Menschen habe, die man nachts um 2 Uhr anrufen könne, sei man auf der Beziehungsebene eben auch gut aufgestellt. Außerdem seien Erfolge wichtig, also Erfolge in dem, was man mache, im Verhältnis zu den eigenen Möglichkeiten, nichts Außergewöhnliches. Und, das sei auch wichtig, dass man für sich selber einen Sinn in seinem Leben gefunden habe.

Wenn diese Faktoren gegeben seien, sei man eben zufrieden, sehne sich nicht nach einem anderen Leben. Auch wenn einem durch Medien, Werbung, Film und Literatur heute natürlich viele verschiedene Lebensmodelle angetragen würden, sodass es leichter sei, sein eigenes Leben infrage zu stellen.

Aber wer zufrieden ist, der macht das eben nicht.

Aha, machte ich.

Und sind nun die Menschen auf dem Land oder in der Stadt zufriedener?

Frau Mangelsdorf lachte schon wieder. Ich glaube, sie tat das, weil diese meine Frage ihr vermittelte, dass ich nach aller Vorrede immer noch nicht verstanden hatte, dass Zufriedenheit wenig mit äußeren Faktoren zu tun hat, sondern eher eine Form von Wertschätzung.

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Sie erzählte mir eine kleine Geschichte.

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Die Geschichte ging so:

Die Menschen auf dem Land sagen, nein, nein, wir lassen unsere Kinder nicht auf dem Feld spielen, das ist viel zu gefährlich, da ist ja niemand. Aber wenn wir in der Stadt leben würden, unter vielen Menschen, dann würden wir sie in der Nachbarschaft spielen lassen. Und die Menschen in der Stadt, die sagen wiederum: Nein, nein, wir können unsere Kinder nicht rauslassen, bei dem Verkehr, das ist viel zu gefährlich, wenn wir auf dem Land leben würden, dann würden wir sie auf dem Feld spielen lassen.

Ich legte auf.

Ich hatte alles verstanden.

Und sehnte mich von nun an danach, weniger zu verstehen.