Unterschied störung der impulskontrolle und selbstverletzendes verhalten

SELBSTVERLETZENDES VERHALTEN

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Eine kurz gefasste �bersicht

Was muss in einem Menschen, vor allem einem jungen Menschen vorgehen, wenn er sich absichtlich und aller Folgen bewusst selbst verletzt: Schneiden oder Ritzen mit Rasierklingen, Messer, Glasscherben, Scheren. Oder Kratzen, Kneifen und Bei�en bis das Blut austritt. Oder den Kopf gegen die Wand schlagen. Vielleicht sogar die eigenen Knochen brechen oder � unfassbar � sich ein Auge ausrei�en. Dabei der Hinweis, man versp�re (fast) keine Schmerzen.

Was sind das f�r Menschen, vor allem aber welche Hintergr�nde, Ursachen, Belastungen, Ereignisse treiben sie zu solchen Taten? Ist das eine Art Selbstt�tungs-Versuch oder eine eigenst�ndige St�rung?

Nachfolgend eine kurz gefasste �bersicht zu einem Thema, das viel h�ufiger auftritt, als es die Allgemeinheit registriert. Und wenn, dann entweder nicht ernst nimmt, besch�nigt oder � das Gegenteil � fassungslos, ja emp�rt verurteilt. Nur: das ist keine Hilfe f�r die Betroffenen.


Erwähnte Fachbegriffe:

Selbstverletzendes Verhalten � selbstzugef�gte Sch�digungen � Auto-Aggression � selbst-aggressives Verhalten � Selbstverst�mmelung � Parasuizidalit�t � Selbst-Besch�digung des eigenen K�rpers � selbst-verletzende Riten � T�towierungen � Piercings � Selbstverletzungs-Methoden � Selbstverletzungs-K�rperstellen � Selbstverletzung und Schmerz-Erleben � H�ufigkeit selbstverletzenden Verhaltens � Co-Morbidit�t bei Selbstverletzung: Depression, Pers�nlichkeitsst�rung, Borderline-Pers�nlichkeitsst�rung, Ess-St�rung, hysterische (histrionische) Pers�nlichkeitsst�rung, dependente Pers�nlichkeitsst�rung u.�a. � Verlauf selbstverletzenden Verhaltens � Alter beim selbstverletzenden Verhalten � Geschlecht und selbstverletzendes Verhalten � Klassifikation selbstverletzenden Verhaltens � schweres selbstverletzendes Verhalten � stereotypes selbstverletzendes Verhalten � oberfl�chliche bis mittelschwere Selbstverletzungen � Klassifikation selbstverletzenden Verhaltens � Selbstverletzung und Suizidgefahr � Ursachen selbstverletzenden Verhaltens � Theorien zum selbstverletzenden Verhalten � wichtige Risikofaktoren zum selbstverletzenden Verhalten � psychische St�rung und selbstverletzendes Verhalten � Vorbeutung selbstverletzenden Verhaltens � Therapie selbstverletzenden Verhaltens � u.a.m.

Dass wir uns einmal unbeabsichtigt selbst verletzen, wem w�re das nicht schon passiert. Dass es aber Menschen gibt, die sich absichtlich selber verletzen, und zwar fortw�hrend, das ist schwer nachvollziehbar � aber h�ufiger, als man denkt.

Dabei gibt es in nicht wenigen Kulturen bzw. Gesellschaftsformen bestimmte Arten von Selbstverletzung, die nicht jedem einleuchten, manchmal sogar fassungslos machen (man erinnere sich nur an bestimmte Riten in Afrika und dem Fernen Osten); und auch bei uns im scheinbar so aufgekl�rten Europa muss man daf�r zumindest grenzwertige bis diskussionsw�rdige Beispiele hinnehmen. Man denke nur an die derzeit wieder aufbl�henden Mode-Trends wie T�towierungen und das Tragen von Piercings, die nebenbei immer mehr K�rperteile erfassen, die daf�r sicher nicht vorgesehen sind.

Unter selbstverletzendem Verhalten hingegen versteht man verschiedene Formen von selbst zugef�gter Sch�digung, bewusst, gezielt, im allgemeinen aber auf krankhafter Basis, insbesondere was seelische Beeintr�chtigungen und psychosoziale Konsequenzen anbelangt.

Nachfolgend deshalb ein kurz gefasster Beitrag zu diesem f�r die meisten erst einmal irritierenden Thema auf der Grundlage von Forschung und Publikationen entsprechender Experten, in diesem Fall von Prof. Dr. F. Petermann und D. Nitkowski vom Zentrum f�r Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universit�t Bremen in der Fachzeitschrift Der Nervenarzt 9�(2008)�1017. Ein ausf�hrlicher Beitrag dazu findet sich an anderer Stelle in dieser Serie, basierend auf dem Buch von F. Petermann und Sandra Winkel: Selbstverletzendes Verhalten im Hogrefe-Verlag G�ttingen 2005.

Selbstverletzendes Verhalten � was ist das?

Unter selbstverletzendem Verhalten verstehen die Experten also mannigfaltige Formen selbst zugef�gter Sch�digungen. Dabei kommen unterschiedliche Fachbegriffe zur Sprache wie �Auto-Aggression� (also selbst-aggressives Verhalten), �Selbstverst�mmelung� oder auch �Parasuizidalit�t� (gemeint sind Suizidhandlungen ohne t�dlichen Ausgang, zumeist mit einer gewissen Appell-Intention).

Im deutschen Sprachbereich definiert man selbstverletzendes Verhalten als �funktionell motivierte, direkte und offene Verletzung oder Besch�digung des eigenen K�rpers, die sozial nicht akzeptiert ist und nicht mit suizidalen (Selbstt�tungs-)Absichten einher geht.

Dabei werden indirekte Varianten selbst-sch�digenden Verhaltens ausgeklammert wie Verweigerung von Nahrung und Wasser oder ungesch�tzter Geschlechtsverkehr. Hier ist n�mlich das Resultat der k�rperlichen Sch�digung nicht direkt beobachtbar und zumeist von den Betroffenen bez�glich der Konsequenzen auch nicht pr�zise einsch�tzbar, geben die Experten zu bedenken. Die Folgen zeigen sich erst nach l�ngerem Zeitraum, �hnlich dem kontinuierlichen und intensiven Alkoholkonsum.

Welches sind die wichtigsten Selbstverletzungs-Methoden?

Die h�ufigste Methode bei Jugendlichen und Erwachsenen (ohne geistige Behinderung, das ist ein erweitertes Feld, wenngleich nicht selten) ist das Schneiden oder Ritzen der Haut. Dazu werden scharfe Gegenst�nde missbraucht wie Rasierklingen, Messer, Glasscherben oder Scheren.

Vielfach kratzen, kneifen oder bei�en sich die Betreffenden auch, und zwar so ausgepr�gt und folgenschwer, dass zum Teil Blut aus der Wunde austritt. Dabei muss man nicht auf technische Mittel zur�ckgreifen (s.�o.); in diesem Fall reichen die eigenen Fingern�gel oder Z�hne aus.

Oder man schl�gt mit Kopf oder H�nden an eine Wand (was man fr�her vor allem bei nicht gut versorgen geistig Behinderten miterleben musste); heute stehen daf�r bestimmte Medikamente zur Verf�gung, die mindestens einen Teil dieser folgenschweren Aggressivit�ts-Handlungen zu unterbinden versuchen.

Als Selbstverletzung gelten aber auch alle Ma�nahmen, die das Abheilen einer Wunde hinausz�gern oder unm�glich machen.

Seltener treten schwerwiegende k�rperliche Sch�digungen auf, die der Laie noch fassungsloser registriert, beispielsweise der Versuch, sich die eigenen Knochen zu brechen oder ein Auge herauszudr�cken.

Das Ausrei�en von Haaren geh�rt auch zum selbstverletzenden Verhalten, hat aber einen eigenen Namen (n�mlich Trichotillomanie) und eine eigene psychologische Ursachen-Basis (siehe das entsprechende Kapitel in dieser Serie).

Welche Instrumente zur Selbstverletzung eingesetzt werden, ist eine individuelle Entscheidung. H�ufig ist es sogar mehr als eine Methode. Was grunds�tzlich zu bedenken gilt, so Prof. Dr. F. Petermann und Mitarbeiter:

Wenn sich ein Patient dringend verletzen will oder � krankheitsbedingt � muss, findet er immer ein Mittel dazu, meist auch mehrere.

Welche K�rperstellen sind am h�ufigsten betroffen?

Einiges kam schon zur Sprache bzw. l�sst ahnen, was alles m�glich ist. Grunds�tzlich aber gilt auch hier: Es k�nnen praktisch alle K�rperstellen verletzt werden, an die man mehr oder weniger problemlos herankommt. Das beginnt mit der Innenseite des Mundes, also Verletzungen der eigenen Mundschleimhaut, geht �ber die Zunge (vor allem Bei�en) und findet seine H�hepunkte an Armen und Handgelenken, gefolgt von Ober- und Unterschenkel.

Diese leicht erreichbaren Regionen lassen sich zwar bei �gesundem Menschenverstand� nicht nachvollziehen, aber doch einigerma�en erkl�ren, wenn selbstverletzendes Verhalten sein muss. Fast grausen w�rde es einen allerdings bei Sch�digungen an empfindlichen Stellen, die man zu sch�tzen sucht, wo es geht. Dazu geh�ren beispielsweise, wie erw�hnt, die Augen. Aber auch sie k�nnen bedroht sein, bis zum Versuch, die eigenen Augen herauszurei�en (Fachbegriff: Auto-Enukleation).

Die am h�ufigsten betroffenen K�rperteile, also Arme und Handgelenke sind nat�rlich auch am einfachsten zu erreichen, am leichtesten zug�nglich und manipulierbar. Der Umstand, dass man so etwas nur selten sieht liegt daran, dass die Narben und Wunden meist unter Kleidung verborgen werden k�nnen oder als Unfall-Folgen vorgegeben werden.

Selbstverletzendes Verhalten und Schmerz-Erleben

Man nimmt an, dass die Mehrzahl der Patienten bei ihren Selbstverletzungen keine oder kaum Schmerzen empfinden. Gerade die so genannten Borderline-Patienten mit oberfl�chlichem bis mittelschwerem selbstverletzendem Verhalten berichten immer wieder von einer regelrechten Schmerzlosigkeit (Fachbegriff: Analgesie). Und auch in so genannten belastungsfreien Phasen scheinen sie die nun eigentlich deutlicher werdenden Schmerzen weniger ausgepr�gt wahrzunehmen als Gesunde mit gleichen Verwundungen.

Vor allem wenn Stress-Gef�hle �berhand nehmen und ein immer st�rker auftretender Selbstverletzungs-Drang versp�rt wird, erh�ht sich die Wahrnehmungs-Schwelle f�r Schmerzempfindungen offenbar noch weiter � man sp�rt nichts.

Wie h�ufig ist selbstverletzendes Verhalten?

Die H�ufigkeit von oberfl�chlichen bis mittelschweren Selbstverletzungen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen wird mit etwa vier Prozent in der Allgemeinbev�lkerung angegeben (ausgenommen geistige Behinderung, das ist ein eigenes Kapitel).

Besonders ausgepr�gt tritt es im Jugendalter und bei Heranwachsenden auf. Hier spricht man von 7 bis 15 Prozent. Vier Prozent haben mehr als drei Episoden krankhaften Selbstverletzungs-Drangs pro Jahr zu verkraften. Am h�ufigsten finden sich die bereits erw�hnten oberfl�chlichen und mittelschweren F�lle.

In bestimmten Gruppierungen muss man aber mit deutlich mehr Selbstverletzungs-Raten rechnen. So sind jene die jungen Patienten, die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ambulant oder station�r behandelt werden m�ssen, sehr viel h�ufiger betroffen, n�mlich bis zu 19 Prozent.

Ein Sonderfall ist die bereits erw�hnte geistige Behinderung. Hier kann es sogar erwachsene Patienten �ber den gesamten Lebenszeitraum hinaus in bis zu 45�Prozent aller erfassten F�lle treffen.

Das weibliche Geschlecht scheint durchweg h�ufiger vertreten.

Co-Morbidit�t: wenn eine Krankheit zur anderen kommt

In dieser Serie wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es bei organischen Leiden (sprich K�rper-Krankheiten) keine Seltenheit, im h�heren Lebensalter sogar die Regel ist, nicht nur eine, sondern mehrere Krankheiten ertragen zu m�ssen (z.�B. Herz-Kreislauf, Wirbels�ule und Gelenke, Magen-Darm, Stoffwechsel u.�a.). In seelischer Hinsicht ist das nicht anders, obgleich man auf dieses Ph�nomen erst in den letzten Jahrzehnten verst�rkt aufmerksam geworden ist. Beispiele: Depressionen und Angstst�rungen, Alkoholismus und Nikotin-Abusus, verschiedene Pers�nlichkeitsst�rungen usw.

So ist es auch bei selbstverletzendem Verhalten. Hier finden sich beispielsweise St�rungen der Sozialverhaltens, St�rung mit oppositionellem Trotzverhalten, eine so genannte Major-Depression (fr�her als endogene, also vor allem biologische und erblich verankerte Depression bezeichnet), insbesondere Pers�nlichkeitsst�rungen vom Typ der Borderline-, vermeidend-selbstunsicheren und paranoiden Pers�nlichkeitsst�rungen. Aber auch Ess- und affektive (Gem�ts-)St�rungen, histrionische (fr�her hysterisch genannte) und dependente (von anderen krankhaft abh�ngige) Pers�nlichkeitsst�rungen geh�ren dazu.

Am besten erforscht (weil wohl auch am h�ufigsten diagnostiziert) ist in diesem Zusammenhang die Borderline-Pers�nlichkeitsst�rung. Einzelheiten zu allen diesen Krankheitsbildern siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie.

Wie verl�uft selbstverletzendes Verhalten

Selbstverletzendes Verhalten beginnt eigentlich selten in der Kindheit (mit Ausnahme von Patienten mit geistiger Behinderung). Kommt es allerdings im Alter von acht Jahren und j�nger vor, ist mit einem besonders ausgepr�gten Krankheitsbild zu rechnen.

Oberfl�chliche und mittelstarke Selbstverletzungen werden in der Regel das erste Mal zwischen 13 und 16 Jahren begangen (aber noch lange nicht in diesem Alter rechtzeitig registriert bzw. dann den zust�ndigen Experten, n�mlich den �rzten und Psychologen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt). Am h�ufigsten und ausgepr�gtesten tritt es zwischen 18 und 24 Jahren auf.

Der Verlauf ist von einem so genannten repetitiven Muster charakterisiert, d.h. es kommt immer wieder zu R�ckf�llen, auch wenn zwischendurch �Ruhe herrscht�. Das kann bis zu selbstverletzenden Handlungen mehrfach pro Tag ausufern.

Im Allgemeinen dauert es offenbar zwischen zehn und 15 Jahren, so die Erfahrungen der Experten. Auf jeden Fall nimmt es im Alter von 30 bis 40 Jahren deutlich ab.

Wie klassifiziert man selbstverletzendes Verhalten?

In Wissenschaftskreisen gibt es verschiedene Klassifikations-Vorschl�ge, die selbstverletzendes Verhalten praktisch nutzbar einzuteilen versucht. Seit etwa zehn Jahren einigt man sich offenbar vor allem auf ein System, das in schwere, stereotype und oberfl�chliche bis mittelschwere Selbstverletzungen differenziert.

- Zu den schweren selbstverletzenden Verhaltensweisen z�hlen intensive Gewebe-Sch�digungen, die auch lebensbedrohlich werden k�nnen. Hierunter fallen beispielsweise Selbst-Amputationen von Gliedma�en, Selbst-Kastrationen oder die Zerst�rung des eigenen Augapfels (die erw�hnte Enukleation). Solche nun wirklich unfassbaren Handlungen gehen meist auf psychotische St�rungen zur�ck (beispielsweise schizophrene Psychosen) oder werden unter dem Einfluss von Rauschdrogen ausgef�hrt.

-Stereotypes selbstverletzendes Verhalten umfasst Schneiden, Verbrennen und Ausrei�en von Haaren, Sich-Kratzen, Augen-, Nasen- und Ohrenbohren sowie � h�ufig bei geistig behinderten Menschen � das st�ndige Schlagen des Kopfes gegen die Wand. Hier handelt es sich zumeist um Pers�nlichkeits-, Ess- und so genannte dissoziative St�rungen, die mit diesen unfassbaren Reaktionen unangenehme Gef�hle mindern oder gar positive erzeugen wollen

- Oberfl�chliche bis mittelschwere Selbstverletzungen unterteilt man in einen zwanghaften, episodischen (in bestimmten Phasen auftretenden) und repetitiven (sich st�ndig wiederholenden) Typus.

Bei zwanghaften Sch�digungs-Ursachen findet man vor allem N�gelkauen oder das Ausrei�en von Haaren (die erw�hnte Trichotillomanie). Dagegen wird die episodische und repetitive Selbstverletzungs-Form besonders durch Schneiden, Verbrennen und Behinderung der Wundheilung charakterisiert. Diese Sch�digungsart findet man vor allem bei Borderline- oder dissozialen Pers�nlichkeitsst�rungen sowie im Zusammenhang mit Ess- und postraumatischen Belastungsst�rungen nach unverarbeiteter Extrembelastung.

Selbstverletzendes Verhalten als absichtliches Selbstverletzungs-Syndrom

Selbstverletzendes Verhalten mag zwar ein breites Spektrum unfassbarer Handlungen umfassen, letztlich aber ist allen klar: Hier kann es sich nicht um eine seelisch gesunde Person handeln. Deshalb hat man im Rahmen der internationalen ton-angebenden Institutionen wie Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) auch eigene Klassifikations-Krite�rien vorgeschlagen und eingef�hrt. So die Kriterien des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer St�rungen der APA als absichtliches Selbstverletzungs-Syndrom, aufgeteilt in nachfolgende kennzeichnende Merkmale:

  1. Besch�ftigung mit k�rperlicher Selbstverletzung, ohne dass eine bewusste suizidale Absicht oder suizidale Gedanken bestehen.
  2. Unf�higkeit, dem Impuls zur Selbstverletzung zu widerstehen (wenn die Entscheidung einmal gefallen ist).
  3. Dem Verhalten gehen emotionale Zust�nde wie zunehmende Anspannung, Wut, Angst, Traurigkeit oder allgemeine Belastung voraus, die weder gemieden noch kontrolliert werden k�nnen.
  4. Auf das selbstverletzende Verhalten folgt unmittelbar ein Gef�hl der Erleichterung, Zufriedenheit oder die Beendigung eines Depersonalisations-Zustandes (auf Deutsch: Ich bin nicht mehr ich selber).
  5. Es m�ssen mindestens f�nf selbstverletzende Handlungen durchgef�hrt worden sein (die Methoden k�nnen im Bereich der verschiedenen Selbstverletzungs-Episoden variieren).
  6. Die Selbstverletzung tritt nicht im Rahmen einer psychotischen St�rung (popul�r: Geisteskrankheit), geistigen Behinderung, Entwicklungsst�rung oder als Folge einer k�rperlichen Erkrankung auf.
  7. Das Verhalten verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leid oder Beeintr�chtigungen in den sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

Nat�rlich sollte man diese Gruppierung auch in die bisherigen Klassifikations-Einteilungen einordnen k�nnen. Wissenschaftlich diskutiert wird dabei die Frage, ob selbst-verletzendes Verhalten eine so genannte �St�rung der Impulskontrolle� ist, die sich ja durch das Unverm�gen auszeichnet, sich einem Drang zu widersetzen, der zu einer (auch selbst-)sch�dlichen Handlung f�hrt. Denn dadurch wird ja die innere Spannung oder gar Erregung abgebaut.

Es wird aber auch diskutiert, ob man selbstverletzendes Verhalten nicht als �Abh�ngigkeitsst�rung� auffassen k�nnte, �hnlich dem Konzept der nicht-stoff�gebundenen Suchtformen (z.�B. Kaufsucht). Der bisherige Forschungsstand � so die Experten � spricht jedoch eher daf�r, dass man selbstverletzendes Verhalten als eine St�rung der Impulskontrolle zu begreifen hat.

Selbstverletzendes Verhalten und Suizidgefahr

Selbstverletzendes und suizidales Verhalten weisen Gemeinsamkeiten auf, das leuchtet sofort ein. Doch sie lassen sich auch unterscheiden: Suizidale Verhaltensweisen zielen auf eine Selbstt�tung, die Beendigung des eigenen Lebens. Oberfl�chliche und mittelschwere Selbstverletzungen werden dagegen h�ufig ausgef�hrt, um negative Gef�hle zu reduzieren. Allerdings muss man einr�umen, dass bei etwa jedem Dritten mit selbstverletzendem Verhalten zumindest suizidale Gedanken zum Zeitpunkt der Verletzung vorliegen (je nach Studie zwischen 28�und 41 Prozent).

Suizidal motivierte Handlungen sind allerdings im Unterschied zu oberfl�chlichen mittelschweren selbstverletzenden Verhaltensweisen gekennzeichnet durch:

- eine geringere H�ufigkeit sowie

- meist nur einer Verletzungs-Methode (die aber auch eine hohe Letalit�ts-, d.�h. T�dlichkeits-Rate aufzuweisen pflegt).

Deshalb empfehlen die Experten f�r eine m�glichst genaue Beurteilung der vorliegenden Selbstbesch�digung, also 1. selbstverletzendes Verhalten oder 2. suizidale Handlung folgende Kriterien zu ber�cksichtigen: Intention (Absicht), Zahl der Episoden sowie das medizinische Risiko eines t�dlichen Ausgangs.

Was steckt dahinter?

Selbstverletzendes Verhalten hat eine Ursache bzw. deren mehrere. Dazu geh�ren

- bei Jugendlichen intensive Belastungen, z.�B. durch famili�re Schwierigkeiten, das Ende einer Partnerschaft oder ein sexuelles Missbrauchs-Erlebnis. Hier soll die Selbstverletzung zur Probleml�sung beitragen, was sich aber als ung�nstige Strategie erweist, allerdings im subjektiven Erleben nur mittel- bis langfristig. Denn je effektiver sich diese fatale Probleml�sungs-Strategie in der kurzfristigen Bew�ltigung der un�berwindbar erscheinenden zwischenmenschlichen Schwierigkeiten erweist, desto schneller wird auch in anderen, weniger bedr�ckenden Situationen darauf zur�ckgegriffen. Das nennen die Experten eine Generalisierung. Da aber die eigentlichen Probleme dadurch nicht gel�st, sondern nur �berspielt, verdr�ngt oder gemieden werden, wird den Betreffenden erst im Laufe der Zeit klar, in welche psychosoziale Sackgasse sie sich damit man�vriert haben.

Denn selbstverletzendes Verhalten kann zwar zum Abbau psychischer Spannungen beitragen, vor allem, was die Reduktion von Groll, Wut, Zorn, aber auch Angst und depressive Gef�hle anbelangt. Man nennt so etwas eine Emotions-Regulation. Ja, es k�nnen danach sogar positive Gef�hle auftreten, n�mlich Entspannung, Ruhe, auf jeden Fall aber scheint die missliche Lage irgendwie eine zwar ungew�hnliche, aber scheinbar machbare Realit�ts-Kontrolle zu erfahren. Allerdings werden auch schon relativ fr�h und zumindest bei einem Teil der Betreffenden Scham-Gef�hle entwickelt, die ihrerseits in einen Teufelskreis m�nden lassen k�nnen.

Auf jeden Fall wirken Selbstverletzungen unmittelbar auf das Gem�t, sind allerdings nur kurzzeitig wirksam und deshalb keine L�sung. Denn schon am n�chsten Tag kann wieder das negative Ausgangs-Niveau erreicht werden, was zu erneuter Tat zwingt.

- Es gibt allerdings noch andere Aspekte, die es zu ber�cksichtigen gilt: So l�sst sich mit selbstverletzendem Verhalten auch die Wut auf sich selber umsetzen, das Bed�rfnis, sich selber zu bestrafen, herabzusetzen, zu dem�tigen, auf jeden Fall entsprechende Emotionen auszuagieren, wie der Fachbegriff lautet.

- Neben dieser Selbstbestrafungs-Strategie wird aber auch versucht, so genannte dissoziative Zust�nde oder Flash-backs zu mindern oder gar zu beenden. Einzelheiten zu diesem Ph�nomen siehe die entsprechenden Kapitel �ber dissoziative St�rungen in dieser Serie.

- Manchmal wird aber auch durch selbstverletzendes Verhalten �nur� versucht, unangenehme soziale Bedingungen zu beenden oder positive �u�ere Zust�nde zu erzwingen.

- Und schlie�lich diskutieren die Fachleute dar�ber, ob das selbstverletzende Verhalten nicht sogar zur Vermeidung oder zumindest als Ersatz f�r das erw�hnte suizidale Verhalten genutzt werden k�nnte (Fachbegriff: Anti-Suizid).

Wenn man alle diese Hypothesen und diagnostisch-therapeutischen �berlegungen gegeneinander abw�gt dann wird aus wissenschaftlicher Sicht vor allem dem Modell der Affekt- bzw. Emotions-Regulation sowie dem Selbstbestrafungs-Modell die meiste Wertigkeit zugesprochen. Es scheinen also intra-psychische Motive (innerseelische Beweggr�nde) bedeutsamer zu sein als (psycho-)soziale.

Nicht wenige Experten sind aber auch der Meinung, dass hier mehrere Funktionen zusammen kommen m�ssen, wenn auch mit unterschiedlichem Schwerpunkt.

Die wichtigsten Vulnerabilit�ts- und Risikofaktoren

  • Der Impulsivit�t (popul�r: einem un�berlegten, unerwarteten und pl�tzlichen Handlungs-Muster) wird eine wichtige Funktion in der Psychologie des Selbstverletzungs-Verhaltens beigemessen. Dabei vermutet man auch gleich einen biologischen Hintergrund, n�mlich eine St�rung im serotonergen Neurotransmitter-System des Gehirns (s.�u.). Das wird durch vielerlei Untersuchungsergebnisse und entsprechende Schlussfolgerungen gest�tzt.

Ein Aspekt ist beispielsweise derjenige, dass die meisten Patienten nur wenige Sekunden oder �berhaupt nicht �ber das selbstverletzende Verhalten nachdenken, bevor sie zur Tat schreiten. Auch zeigt sich, dass viele Patienten davon berichten, fast t�glich einen Drang zur Selbstverletzung zu versp�ren, was dann nicht mehr mit einzelnen Beeintr�chtigungen erkl�rt werden kann, so h�ufig belasten selbst negative Verh�ltnisse auch wieder nicht.

  • Dagegen finden sich in der Vorgeschichte der Betroffenen geh�uft traumatische Erlebnisse; und hier vor allem sexuelle Missbrauchs- und k�rperliche Misshandlungs-Erfahrungen, insbesondere in der Kindheit.

Solche traumatischen (in diesem Fall k�rperlich, vor allem aber seelisch verwundende) Ereignisse gelten als wichtiger, wenn nicht gar wichtigster Risikofaktor f�r selbstverletzendes Verhalten.

- Dabei scheinen bei jungen M�nnern physische (k�rperliche) Misshandlungen mehr Bedeutung zu haben als die Erfahrung eines sexuellen Missbrauchs oder einer emotionalen Vernachl�ssigung.

- Beim weiblichen Geschlecht denkt man vor allem an sexuellen Missbrauch, wobei jedoch hier neben traumatischen Kindheits-Erlebnissen auch eine Neigung zu emotionaler (gem�tsm��iger) �bererregbarkeit und eine mangelnde F�higkeit vorliegt, sich gem�tsm��ig auszudr�cken, beispielsweise dar�ber entlastend zu sprechen.

  • So wird auch immer wieder dar�ber berichtet, dass eine gest�rte Emotions-Regulation, d.h. eine affektive Dysregulation f�r die Entstehung von selbstverletzendem Verhalten verantwortlich sein kann (kurz und allgemein verst�ndlich eine ausgeglichene Stimmungslage zu unterhalten. Zumindest wird ihr eine bedeutsame Rolle zugeschrieben, was die halt nur kurze Beeinflussung einer negativen Gem�tslage, vor allem aber was den Zwang zu immer wiederholter Selbstbesch�digung anbelangt.
  • Ist selbstverletzendes Verhalten also eine psychische St�rung bzw. findet sie sich im Rahmen einer seelischen Erkrankung, und wenn ja, bei welchen bevorzugt? Auch dies hat nat�rlich die Experten immer wieder besch�ftigt und die Ergebnisse ihrer Untersuchungen lauten:

Oberfl�chliche und mittelschwere Formen selbstverletzenden Verhaltens finden sich vor allem in Kombination mit Pers�nlichkeitsst�rungen, besonders bei Borderline-St�rungen. Einzelheiten dazu siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie. Hier ist es vor allem das �andauernde Muster von affektiver und interpersoneller Instabilit�t sowie deutlicher Impulsivit�t und einer damit verbundenen Neigung zu selbstdestruktiven Handlungsweisen� wie es in der Fachsprache hei�t. Oder auch kurz und allgemein verst�ndlich: Diese Menschen sind inner-seelisch nicht im Gleichgewicht, gleichsam durchgehend instabil und dabei zus�tzlich noch impulsiv, was eine unertr�gliche Spannung aufbaut, die in ihren Augen nur durch Selbstverletzungen gel�st oder zumindest gemildert werden kann.

Allerdings gibt es Selbstverletzungen auch bei Ess-St�rungen, posttraumatischen Belastungsst�rungen und Substanz-Missbrauch (Rauschdrogen, Alkohol, Medikamente, Nikotin). Und sie finden sich sogar bei depressiven Zust�nden, die man fr�her beispielsweise als endogene Depressionen und heute als Major-Depression bezeichnet. Auch hier: Einzelheiten siehe die zum Teil ausf�hrlichen Beitr�ge in dieser Serie.

Auf jeden Fall wird das selbstverletzende Verhalten auf zweierlei hinweisen (k�nnen): Zum einen als Reaktion auf die Belastung durch solche Erkrankungen bzw. ihre Symptome und zum anderen als mehr oder weniger typische Merkmale dieser St�rung, zumindest aber als Vorl�ufer der jeweiligen Erkrankung.

Beides ist auf jeden Fall ung�nstig, was die Heilungsaussichten anbelangt und bedarf deshalb einer raschen Diagnose und gezielten Therapie.

Schlussfolgerung

Das hei�t: Vor allem bei Krankheitszeichen, die den Verdacht auf eine Pers�nlichkeits-, Ess- oder posttraumatische Belastungsst�rung, auf Missbrauch oder Abh�ngigkeit sowie Depressionen verweisen, sollte man auch nach Selbstverletzungs-Neigungen fahnden (Vorgeschichte, frische Verletzungen oder Narben). Dabei muss man aber sehr behutsam vorgehen, denn die erw�hnte Kombination aus Wut, Angst oder Scham sowie die Furcht vor Ablehnung kann zu R�ckzug oder Widerstand f�hren und damit alle Bem�hungen schon im Vorfeld zunichte machen.

Liegt der Verdacht nahe, muss man tiefer einzusteigen versuchen. Dazu geh�ren entsprechende Fragen zu Ursache und Beweggrund, zur jeweiligen Gef�hlslage, zum psychischen Zustand zum Zeitpunkt der Tat u.�a. Vor allem aber die Frage nach der Anzahl selbstverletzender Episoden sowie zur Verletzungs-Intensit�t bis hin zur drohenden Letalit�t (T�dlichkeit).

Bei der Planung therapeutischer Schritte geht es neben den psychosozialen Risiken vor allem auch um biologische Hintergr�nde, was dann aber die vereinten Bem�hungen verschiedener Experten nahe legt (Nerven�rzte, d.�h. neurologisch und psychiatrisch ausgebildet, Psychiater mit psychotherapeutischer Erfahrung, Psychologen mit entsprechender Ausbildung, ggf. neuro- und psycho-physiolo�gisch spezialisierte Experten).

Das zentrale Therapieziel am Schluss aber ist die F�rderung emotionaler Kompetenz, wie es die Fachleute nennen. Es gilt die Affekte so zu modulieren, dass sie sich nicht derart zerst�rerisch gegen den Betroffenen selbst wenden. Selbstverletzendes Verhalten als Aufschrei von innen nach au�en, das zu erkennen, zu akzeptieren und verst�ndnisvolle Hilfe anzubieten, das ist das Gebot der Stunde, von dem man mit einiger Best�rzung feststellen muss, dass es immer h�ufiger gefordert ist. Dass hier �etwas nicht stimmt�, wird jedem schnell klar. Dass man hier umgehend eingreifen sollte, auch. Allerdings wie, wann, mit wem?

Das zu entscheiden setzt das entsprechende Wissen voraus, und zwar in der Allgemeinheit und damit auch im potentiellen Umfeld des (bisher lang nicht erkannten) Betroffenen. Auf dieses Umfeld kommt es an, denn die Fachleute stehen am Ende dieser Diagnose- und Therapie-Kette. Da man aber so fr�h und so konsequent wie m�glich eingreifen sollte, ist und bleibt es eine aufgekl�rte �ffentlichkeit, die hier den bedrohlichsten Schaden abzuwenden vermag, und zwar rechtzeitig, falls fundiert informiert, wirklich motiviert und nachhaltig um Hilfestellung bem�ht.

Einzelheiten dazu siehe der ausf�hrliche Beitrag zu diesem Thema.

Literatur

Zunehmende Zahl von wissenschaftlichen Publikationen und erste Fachb�cher in deutscher Sprache.

Grundlage vorliegender Ausf�hrungen ist vor allem das Fachbuch

Petermann,�F., Sandra Winkel : Selbstverletzendes Verhalten. Hogrefe-Verlag, G�ttingen, Bern, Wien, Toronto, Seattle, Oxford, Prag 2005

Was ist eine Störung der Impulskontrolle?

Eine Impulskontrollstörung ist ein psychiatrisches Krankheitsbild, das sich durch impulsives Handeln bei gestörter Selbstkontrolle auszeichnet. Es äußert sich durch ein dranghaftes Verhalten, das vom Patienten nicht oder nur teilweise gesteuert werden kann.

Wie äußert sich fehlende Impulskontrolle?

Bei Störungen der Impulskontrolle können die Impulse nicht mehr ausreichend kontrolliert werden. Es kann dann zu folgenden Symptomen kommen: Wutausbrüche mit unkontrolliertem Verhalten. Essstörungen mit unkontrolliertem Essen und ggf.

Welche Impulskontrollstörungen gibt es?

Dazu zählen das pathologische Spielen, die pathologische Brandstiftung (Pyromanie), das pathologische Stehlen (Kleptomanie), die Trichotillomanie und „sonstige“ Störungen der Impulskontrolle, wie die Störung mit intermittierend auftretender Reizbarkeit.

Was gehört zur Impulskontrolle?

Als Impulskontrollstörung wird ein Verhaltensablauf bezeichnet, bei dem durch einen als unangenehm erlebten Anspannungszustand ein bestimmtes impulsiv ausgeübtes Verhalten ausgelöst wird. Das impulsive Verhalten wird dranghaft, oft automatisch ausgeführt.