Luigi nono lebendig ist wer wach bleibt

März 27, 2017 Hinterlasse einen Kommentar

Lebendig ist, wer wach bleibt

Sich dem anderen schenkt

Das Bessere hingibt

Niemals rechnet

Lebendig ist, wer das Leben liebt

Seine Begräbnisse, seine Feste

Wer Märchen und Mythen

auf den ödesten Bergen findet

Lebendig ist, wer das Licht erwartet

 in den Tagen des schweren Sturms

 Wer die stillen Lieder

 ohne Geschrei und Schüsse wählt

 Sich dem Herbst hinwendet

 und nicht aufhört zu lieben

Luigi Nono (* 1924 in Venedig; † 1990 ebenda)

Luigi nono lebendig ist wer wach bleibt

  1. Startseite
  2. Kultur

Erstellt: 05.10.2010, 03:00 Uhr

KommentareTeilen

Luigi nono lebendig ist wer wach bleibt

Einsam zwischen Tüchern: „Intolleranza 1960“ ist zurzeit in der Staatsoper Hannover zu erleben.

Von Ute Schalz-LaurenzeHANNOVER (Eig. Ber.) · Alles ist anders als sonst bei einer Opernpremiere: Nur 250 Zuschauer dürfen zunächst in den Zuschauerraum, in dem weiße Tücher über den Sitzen ausgebreitet sind. Hinsetzen geht also nicht.

Dann erklingt aus dem Off der erste Chor aus Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ („Lebendig ist, wer wach bleibt“), und danach wird man auf die Bühne gebeten. Schnell ist klar, warum: Wir sollen uns als Teil des Chores fühlen, als Teil jener Menschen, denen so viel Unrecht widerfährt und für die Nono ein Musiktheater schreiben wollte, das „für menschliche Lebensbedingungen kämpft“.

Es geht in diesem Werk – eines der wenigen in der zeitgenössischen Musik, das regelmäßig in den Spielplänen der Opernhäuser erscheint – um ein Emigrantschicksal. Der Überlebende eines Bergwerksunglücks in Belgien muss auf seinem Rückweg in seine Heimat Folter erleben. Angesichts der Überschwemmungen des Flusses Po wird er sich später bewusst, dass er dort bleiben muss: Der Mensch wird „dem Menschen ein Helfer“.

Das ist nicht geradinig erzählt, was die Schwierigkeit für die Inszenierung ebenso ausmacht wie die Ideologie des guten Sozialismus, die inzwischen fette Patina angelegt hat. Im Grunde ist es ein Oratorium und wie in Bachs „Matthäus-Passion“ hat der Chor ebenso agierende wie kommentierende Partien.

Der Blick auf der Bühne in den Schnürboden assoziiert ein undurchdringliches Gefängnis, die Musik ist nicht sichtbar, dafür auf mehreren Bildschirmen der Dirigent Stefan Klingele. Die ohnehin absurd schwierige Chorpartie wird natürlich noch anspruchsvoller, weil alle Sänger einzeln im Publikum stehen, eine Leistung, die im wahrsten Sinn des Wortes ihresgleichen sucht. In acht von elf Bildern tritt der Chor mit der vielleicht schwierigsten Partie der gesamten Musikgeschichte auf. Ein überdimensionaler Einsatz, der auch die rein organisatorische Leistung eines Staatstheaters an die Grenze bringt. Klangschönheit und Souveränität nehmen in jedem Augenblick gefangen.

Regisseur Benedikt von Peter ist sich der Zeitgebundenheit des Stückes ebenso bewusst wie der Problematik, dass das Publikum heute „keine über die Rampe geschickten Botschaften über die Veränderung der Welt“ mehr hören will. Zugleich aber ist er wie Nono zu Recht davon überzeugt, dass nur das Kollektiv zufrieden stellen kann. Es ist ein Kollektiv, das allein „Ich-Stärke“ erlebbar werden lässt. Die „Botschaft“ ersetzt er also durch gemeinsames Erleben: auf einem Polizeibüro, bei einer Folterung, auf der Flucht und am Ende beim verheerenden Hochwasser, das mit dem höchst möglichen Realismus niederrauscht. Natürlich kann die organisierte Künstlichkeit dieser Situation nicht aufgehoben werden, aber von Peter lässt vorsichtig agieren, vermeidet Peinlichkeiten. Es gelingt ihm durchaus, seine überzeugende Idee mit der Hilfe der Bühnenbildnerin Katrin Wittig und Kostümen von Geraldine Arnold zu vermitteln.

Über allem steht die unsterbliche Musik Nonos – dieser emphatische Ausdruck dürfte fünfzig Jahre nach der Komposition und zwanzig Jahre nach Nonos Tod erlaubt sein –, sie blüht mit einer unglaublichen Überzeugungskraft, die Nono ungebrochen in der großen melodischen Tradition seiner Heimatstadt Venedig und seines Heimatlandes Italien ausweist. Die Musik unter Klingele zieht mit enormer Kraft nach vorn, setzt still atmosphärische und hochdramatische Akzente.

Die Partie des Emigranten singt Mathias Schulz überragend, genau die Mitte treffend zwischen dem heldischen und dem lyrischen Anspruch. Ebenso tadellos Karen Frankenstein (Gefährtin) und Khatuna Mikaberidze (eine Frau). Ein großer Abend, der wieder einmal zeigt, dass diese Oper – wie die anderen von Nono auch – neben Turandot und La Traviata in jedes Opernrepertoire hineingehört.

Weitere Vorstellungen: am 11., am 17. und am 25. September in der Staatsoper Hannover.

Auch interessant