Die realität des risikos: über den vernünftigen umgang mit gefahren

Menschen sind Gefahren ausgesetzt und viele dieser Gefahren sind von Menschen verursacht oder beeinflusst.
Wir leben nicht heute erst in der „postmodernen Moderne“ (Ulrich Beck) in einer „Risikogesellschaft“, vielmehr war die Menschheit von jeher Risiken ausgesetzt und hat versucht, diese durch eigenes Tun günstig zu beeinflussen. Bevor Menschheitsgeißeln wie die Pest, die Pocken, Masern etc. durch Hygienemaßnahmen und Impfungen unter Kontrolle gebracht wurden, gehörten Epidemien zu den größten Menschheitsgefahren.
Uns ist unterdessen bewusst, dass es damit nicht vorüber ist. Kriege, Umweltzerstörung, Großtechnologien vernichten und gefährden Menschenleben, sind aber allein von Menschen verantwortet.
Die Realität des Risikos zwingt uns zu einer rationalen Auseinandersetzung: Wie sollen wir auf Risiken reagieren und welche Rolle spielend dabei ethische Kriterien?

Julian Nida-Rümelin gilt als einer der renommiertesten Philosophen in Deutschland und lehrt Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er gehörte als Staatsminister für Kultur und Medien dem ersten Kabinett Schröder an. Er ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Berlin und der Europäischen Akademie der Wissenschaften. Im Frühjahr 2021 veröffentlichte er gemeinsam mit Nathalie Weidenfeld bei Piper „Die Realität des Risikos: Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren“.

Montag, 27. September 2021 · 19:30 Uhr

Prof. Dr. Dr. Julian Nida-Rümelin

Die realität des risikos: über den vernünftigen umgang mit gefahren
©Diane von Schoen

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Die realität des risikos: über den vernünftigen umgang mit gefahren

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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.06.2021

Jenseits der Dunkelziffer
Die nächste Pandemie kommt bestimmt: Julian Nida-Rümelin und
Nathalie Weidenfeld haben vier Thesen für eine Strategie der Vernunft
VON BURKHARD MÜLLER
Über Corona ist so viel geschrieben und gestritten worden, dass einem der Kopf schwirrt bei so viel Input und Leidenschaft. Umso begrüßenswerter ist es, dass sich Julian Nida-Rümelin, Bundeskulturminister in der Regierung Schröder, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats, Politiker, Philosoph und Public Intellectual, mit einer Schrift zu Wort meldet, die auf besonnene Weise klarmacht, was schiefgelaufen ist (eine ganze Menge) und künftig besser zu machen wäre.
Zu Recht beklagt er die „melodramatischen Narrative“ auf beiden Seiten, der Befürworter und Gegner restriktiver Maßnahmen, wodurch eine ruhige Erörterung dessen, was nottut, fast unmöglich wurde – aber auch, was er mit Habermas die „strategische Kommunikation“ der verantwortlichen Stellen nennt. Vom Vorwurf der amtlichen Lüge ist das nur noch um eine höfliche Haaresbreite getrennt. Das Buch hat, geschuldet vermutlich seiner raschen Entstehung – denn wir brauchen es jetzt und nicht in drei Jahren – gewisse Mängel, die zuerst genannt werden sollten, ehe man zu seinem Kern kommt. Es beginnt nicht mit der Sache, um die es so dringend geht, Corona nämlich, sondern befasst sich, wie auch sein Titel ausweist (in dem zwar das Risiko, aber nicht die Pandemie auftaucht), zunächst mit allgemeineren philosophischen und ethischen Fragen. Das macht den Leser einigermaßen ungeduldig, zumal wenig dabei herauskommt. Es häufen sich Sätze wie „Nur eine inklusive, möglichst viele einbeziehende Auseinandersetzung mit der Herausforderung und ihren Bewältigungsstrategien kann am Ende zu einer Praxis führen, die allgemein zustimmungsfähig ist.“ Wer möchte dem widersprechen? Als konkrete Anleitung taugt es kaum. Einen neckischen Einfall muss man es nennen, dass die Ko-Autorin Nathalie Weidenfeld zu Anfang jedes Kapitels das längere Szenario eines Films beisteuert, in dem es ungefähr um dasselbe Thema zu gehen scheint, zum Beispiel der „Truman Show“, wenn die Frage der Wahrhaftigkeit erörtert werden soll. Ein umfangreicher Anhang versammelt Zeitungsartikel und Interviews (unter anderem mit der Süddeutschen Zeitung) Nida-Rümelins zum Thema. Überschneidungen und Wiederholungen lassen sich dabei kaum vermeiden, was angesichts der Dringlichkeit des Gesagten aber nicht wirklich stört. Es kommt hier darauf an, die zentralen Thesen des Autors zu umreißen. Vier sind es. Erstens, unter den beiden möglichen Strategien der Pandemiebekämpfung hat sich die in Asien praktizierte des „Containment“ bewährt und die europäische des „Delay“ nicht (während in Trumps Amerika von einer Strategie eigentlich überhaupt nicht gesprochen werden kann). Containment bedeutet, dass in einer frühen Phase des Ausbruchs der Herd energisch abgeriegelt wird – China hat die Stadt Wuhan wochenlang komplett isoliert und die Krankheit damit in den Griff bekommen, eine Tatsache, die im Westen nur sehr widerstrebend zugegeben wurde.
Europa dagegen setzte darauf, die Ausbreitung der Krankheit, die für unvermeidlich galt, möglichst in die Länge zu ziehen, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Das war nicht nur eine verkehrte Grundannahme, sondern hat den sozio-ökonomischen Druck auf die gesamte Gesellschaft erhöht und verlängert, ohne die Anzahl der schweren Verläufe und der Todesfälle insgesamt wesentlich zu senken – also ein Opfer, und zwar ein gewaltiges, das eigentlich für die Katz war.
Zweitens, es stelle einen Fehler dar, alle Maßnahmen von der Inzidenzrate abhängig zu machen. Die Inzidenzrate spiegele nämlich nicht die tatsächliche Anzahl der Infektionen wider, sondern die Test-Häufigkeit. Es sei verkehrt, hier von einer Dunkelziffer zu sprechen, vielmehr handle es sich um die Spitze eines Eisbergs – in Wirklichkeit gebe es rund zehnmal mehr Infektionen als gemeldet würden, und es sei unverantwortlich, so einschneidende Maßnahmen, wie sie gegenwärtig gelten, von einem derart unsicheren Faktor abhängig zu machen. Daraus folgt aber drittens, dass der Prozentsatz der schweren und tödlichen Verläufe, ja selbst der überhaupt bemerkbaren Erkrankungen wesentlich niedriger liege, als die offizielle Statistik vermuten lässt.
Wenn es, bei konstanter Zahl der Todesfälle, zehnmal mehr Infektionen gibt als es offiziell heißt, dann bedeutet dies, dass das Virus aufs Ganze der Gesellschaft gerechnet letztlich nur ein Zehntel so gefährlich ist wie bislang angenommen. So lasse sich eine erhebliche Ähnlichkeit mit den Grippewellen feststellen, die ja auch jedes Jahr eine gewisse Anzahl vulnerabler Personen töten, im Übrigen aber von jeher als Risiko gelten, das im Interesse eines reibungslosen Betriebs einfach zu tragen sei und keine besonderen Lockdown-Regeln erfordere.
Es komme viertens also vor allem darauf an, die vulnerablen Gruppen, das heißt hochbetagte und vorerkrankte Personen, in besonderer Weise vor der Pandemie zu schützen, durch ein Verfahren, das Nida-Rümelin als „Cocooning“ bezeichnet. Wichtig sei, ihnen in dieser Isolation maximale Fürsorge angedeihen zu lassen, damit sie nicht vereinsamen und aus der Welt fallen. Dies muss allerdings auf freiwilliger Basis geschehen, nicht durch Zwang: Wenn eine Neunzigjährige beschließt, dass sie trotz allem noch einmal die Urenkel sehen will, dann muss es ihr überlassen bleiben, das Risiko der Infektion abzuwägen.
Vor allem im vierten Punkt hätten Staat und Gesellschaft komplett versagt: Durch den mangelhaften Schutz des behandelnden und pflegenden Personals sei die Pandemie in die Heime und Krankenhäuser gebracht worden und habe dort völlig vermeidbare Verheerungen angerichtet – während zugleich der ruinöse Lockdown, der alle erfasste, insgesamt nur geringe Auswirkungen gezeitigt habe.
Das Buch ist im letzten Jahr entstanden; Nida-Rümelin verleiht darin der Hoffnung Ausdruck, dass ein zweiter Lockdown vermieden werden kann. Inzwischen sind wir beim dritten. Seine Diagnosen und Vorschläge haben jedoch nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Er baut, trotz starker gegenteiliger Indizien, weiterhin auf die Rationalität der Gesellschaft und Politik. Ein Kapitel nennt er „Lob der Urteilskraft“ und beharrt darauf, dass die gesamte Gesellschaft am entsprechenden Diskurs teilnimmt und Gehör findet.
Das ist sehr sympathisch; doch macht er eine Einschränkung, deren Konsequenz er nicht in vollem Umfang bedenkt. Er schreibt: „Aber wenn das Volk, die Bürgerschaft in der Demokratie, sich dem begründeten Argument verweigert, die wissenschaftliche Expertise abwertet und die repräsentative, institutionell und rechtsstaatlich verfasste Entscheidungsfindung durch den unmittelbaren Volkswillen ersetzt, gefährdet dies ebenfalls die demokratische Ordnung. Wir stimmen dieser unter dem Vorbehalt zu, dass individuelle Rechte garantiert sind, der Rechtsstaat darüber wacht und Institutionen Machtmissbrauch verhindern.“ Wir – wer ist das? Das Volk als Ganzes kann es nicht gut sein, denn diesem wurde gerade das Misstrauen ausgesprochen. Es ist hier in aller Stille eine Instanz eingeführt, die darüber befindet, was von dem, das das Volk mehrheitlich will, tatsächlich demokratische Legitimität besäße. Der Demokratie als einem System, in dem quantitative Verhältnisse den Ausschlag geben, wird eine qualitative Spezifizierung hinzugefügt, über deren Anwendung ein Zirkel zu befinden hat, der seinerseits keine formelle Legitimierung aufweist, nämlich das „Wir“: die Schar der Vernünftigen, die dem jeweils geäußerten Begehren Vernunft zu- oder abspricht und damit indirekt den zu fällenden Entscheidungen vorgreift. Es ist nicht anzunehmen, dass Nida-Rümelin ein Wächterrat wie in der Islamischen Republik Iran vorschwebt – aber in die Richtung geht es. Der Unmut über diese Art von Bevormundung ist sehr real, und ihn sollte berücksichtigen, wer Hass und Trotz der „Querdenker“ begreifen will.
Anders als China setzte
Europa darauf, die Ausbreitung
in die Länge zu ziehen
Bilder einer Pandemie: In Wuhan fand schon im Januar 2021 eine Ausstellung statt, die an den Großeinsatz erinnerte.
Foto: Getty Images
Julian Nida-Rümelin/
Nathalie Weidenfeld:
Die Realität des Risikos.
Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren.
Piper, München 2021.
218 Seiten, 24 Euro.
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