Die blätter fallen wie von weit

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Wie die Überschrift uns bereits klar vor Augen hält, geht es in diesem Gedicht um den Herbst. Die ersten Zeilen, die vom Blätter fallen erzählen, symbolisieren uns diese Jahreszeit noch deutlicher. Auch die zweite Zeile steht für eine Naturbeobachtung: "Als welkten in den Himmeln ferne Gärten". Wenn wir als Kinder nach oben in die Baumwipfel schauten und den fallenden Blättern zusahen, hatten wir auch das Gefühl, sie kommen von weit weit weg, irgendwo aus dem Himmel. Und es machte uns immer grosse Freude die Blätter tanzend durch die Luft säuseln zu sehen. Die fallenden Blätter, die sich drehten im Wind und nochmals hoch flogen und wieder quer und hinunter und hinauf und hinunter... wirkten auf uns leicht, unbeschwert und fröhlich.

Nicht so auf Rilke, in der letzten Zeile der ersten Strophe sinniert er: "Sie fallen mit verneinender Gebärde". Das tönt nicht gerade fröhlich. Die Blätter gebärden sich verneinend vor ihm. Lebensverneinend. Sie wollen gar nicht fallen. Sie wollen nicht in den Herbst fallen, sondern noch leben, noch fliegen, wieder in den Himmel...

Ob da Sehnsucht mitschwingt, eine Art Bilanzziehung, die dem Sommer des Lebens nachtrauert oder etwas noch Ungelebtem. Rilke ist 1875 geboren. Als er 1902 das Gedicht "Herbst" schrieb, war er folglich erst 27 Jahre alt. Also weit entfernt von einem herbstlichen Lebensalter. Vielleicht einfach eine Melancholie, die mit vielen Umständen in seinem Leben zu tun hatte, und die unterstrichen wurde durch die fallenden Blätter, die dunkler werdende Jahreszeit.

Und nachts, fällt die von Blättern schwere Erde, diese geschwängerte Erde, aus allen Sternen in die Einsamkeit. Jetzt funkt Hoffnung auf, symbolisiert durch die Sterne. Diese Hoffnung ist wichtig. Wir brauchen sie, fällt doch alles in die Einsamkeit, in etwas, das uns Angst macht.

"Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen." Das Welken ist in allen, wir werden alle alt und müde. Es fällt alles nach unten, dem Boden zu. Man mag die Arme nicht mehr so oft hoch heben und jubeln. Sie werden schwer. Wie vor dem Einschlafen, wenn wir müde sind und alles langsam schwer wird...

... Um dann in eine Leichtigkeit zu fallen, in den Schlaf, wo wir aufgefangen, geborgen sind: "Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält".

Rilke weilte 1902 in Paris. Er lernte Rodin kennen, der mit seinen 62 Jahren für ihn ein alter Mann war. Ein Greis, wie er ihn in August Rodin, erster Teil (1902), einer jungen Bildhauerin Paris, im Dezember 1902 beschreibt. Eine tiefere Auseinandersetzun mit dem Herbst, dem Alter durch die Bekanntschaft mit Rodin, können wir uns auch vorstellen. Rilke liebte den Herbst, und er war von Rodin sehr angetan.

(© Monika Minder, 24. Sept. 2019)

Besinnliche Gedichte, schöne Sprüche und Texte von Rainer Maria Rilke für die Advents-, Weihnachts- und Neujahrszeit.

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Die Blätter fallen, fallen wie von weit

Language: German (Deutsch) 

Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde. Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh die andre an: es ist in allen. Und doch ist einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.

About the headline (FAQ)

Authorship:

  • by Rainer Maria Rilke (1875 - 1926), "Herbst", appears in Das Buch der Bilder, first published 1920 [author's text checked 1 time against a primary source]

Musical settings (art songs, Lieder, mélodies, (etc.), choral pieces, and other vocal works set to this text), listed by composer (not necessarily exhaustive):

  • by Elizabeth R. Austin (b. 1938), "Herbst" [medium voice and piano], from Drei Rilke-Lieder, no. 2 [ sung text checked 1 time]
  • by Gary Bachlund (b. 1947), "Herbst", 2008 [mezzo-soprano and piano], from Zwei Rilke-lieder, no. 1 [ sung text checked 1 time]
  • by Henk Badings (1907 - 1987), "Herbst", from Fünf Rilke-Lieder, no. 2 [ sung text not yet checked against a primary source]
  • by Conrad Beck (1901 - 1989), "Herbst" [voice and piano or organ], from Drei Herbstgesänge, no. 3 [ sung text not yet checked against a primary source]
  • by Albert Ernst Anton Becker (1834 - 1899), "Im Herbst", op. 8 (Fünf Lieder) no. 4, published 1884 [medium voice and piano], Leipzig, Breitkopf & Härtel [ sung text not yet checked against a primary source]
  • by Ferenc Farkas (1905 - 2000), "Herbst", 1984, copyright © 1987 [four-part mixed chorus], from Hommage à Rilke, no. 2, Editio Musica Budapest, Z. 13279 [ sung text not yet checked against a primary source]
  • by Wim Franken (b. 1922), "Herbst", 1959, from Zes Rilke-liederen, no. 6 [ sung text not yet checked against a primary source]
  • by Robert Fürstenthal (1920 - 2016), "Herbst" [voice and piano], from 16 Lieder und Balladen vom Leben und Vergehen, no. 14, confirmed with a CD booklet [ sung text checked 1 time]
  • by Hans Gál (1890 - 1987), "Erhebung", op. 25 no. 5 (1912-25), published 1926, first performed 1927 [SSAA chorus a cappella], from Herbstlieder, no. 5, N. Simrock, Berlin [ sung text checked 1 time]
  • by Franz Krause (1889 - ?), "Herbst", op. 47 no. 5, published 1972?, from Sechs Gedichte von Rainer Maria Rilke, no. 5 [ sung text not yet checked against a primary source]
  • by Ignace Lilien (1897 - 1964), "Herbst", 1923 [ sung text not yet checked against a primary source]
  • by Ignace Lilien (1897 - 1964), "Herbst ", 1922, copyright © 1960 [low voice or medium voice and piano], from Sechs Gedichte von R.M. Rilke, no. 1, Amsterdam : Donemus [ sung text not yet checked against a primary source]
  • by Léon Orthel (1905 - 1985), "Herbst", op. 87 no. 3 (1980), from Herfst, no. 3 [ sung text checked 1 time]
  • by Siegmund Schmidt (b. 1939), "Herbst", 2010 [alto and piano] [ sung text not yet checked against a primary source]
  • by Peter Visser (b. 1939), "Herbst", 1981, from Zes Rilke-liederen, no. 3 [ sung text not yet checked against a primary source]

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  • ENG English (Bertram Kottmann) , "Fall", copyright © 2008, (re)printed on this website with kind permission
  • ENG English (Gary Bachlund) , "Fall", copyright © 2008, (re)printed on this website with kind permission
  • FRE French (Français) (Pierre Mathé) , "Automne", copyright © 2012, (re)printed on this website with kind permission
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Researcher for this text: John H. Campbell

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