Warum frauen gleich hysterisch werden

Schon als Mädchen bringt man uns bei: Reg dich nicht auf, schrei nicht rum, das steht dir nicht. Woher kommt das? Und wann erkennen wir endlich die Chancen weiblicher Wut?

Ja, ich bin wütend. Und ich mag meine Wut. Sie ist ein Teil von mir. Der Teil, den ich am besten kenne, in dem ich mich wiederfinde – und auf den ich immer zählen kann. Doof nur, dass es sich für eine Frau nicht schickt, wütend zu sein. Wütende Frauen gelten als abstoßend. Sie wirken hysterisch (ein Wort, das mich besonders wütend macht, weil es schon immer benutzt wurde, um weibliche Gefühle lächerlich zu machen), sie wirken dramatisch und definitiv nicht feminin. Wütende Frauen sehen nicht schön aus und sind deshalb nicht gefällig. 

Heute bin ich vor allem dann wütend, wenn ich nicht gehört werde!

Ich war schon immer wütend. Es gibt Kinderfotos vor mir, auf denen ich ein einziger Ausdruck von Empörung bin. Mittlerweile weiß ich auch, was mich damals wie heute so anstachelt: Ungerechtigkeit. Unverhältnismäßige Reaktionen, unfaire Zustände, ungleiche Behandlung. Deshalb war ich wütend, wenn mein Bruder bevorzugt wurde. Wenn ich vom Mathelehrer schikaniert statt unterrichtet wurde. Ich war wütend, wenn ich nicht mitspielen durfte, und noch wütender, wenn ich irgendwo mitspielen musste. Heute bin ich vor allem dann wütend, wenn ich nicht gehört werde: wenn mein Nein nicht zählt oder mein Ja vorausgesetzt wird.

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Was bitte ist eine „mad woman“?!

In ihrem Buch „Rage becomes her“ („Die Wut steht ihr gut“) beschäftigt sich die amerikanische Journalistin und Aktivistin Soraya Chemaly mit dem Phänomen der wütenden Frau. In der westlichen Welt, erklärt sie, seien „mad women“ eben mehr als „mad“ im Sinne von sauer, sondern synonym mit verrückt, durchgeknallt. So würden wütende Frauen sofort diskreditiert. Wir seien so wenig an den Anblick und an die Kraft einer wütenden Frau gewöhnt, dass weibliche Selbstbehauptung, Aggression und Wut oft in einen Topf geworfen werden, schreibt die Autorin. Aber: Wut sei eine Emotion. Selbstbehauptung und Aggression seien Verhaltensweisen. Man könne sich durchsetzen, ohne wütend zu sein. Und wütend sein, ohne es zu zeigen. Ich hielt mich lange für eine aggressive Person. Auch weil es mir oft so gespiegelt wurde. Heute weiß ich: Ich bin nicht aggressiv. sondern einfach nur verdammt wütend.

Wut sagt: Lass mich in Ruhe!

Wut ist eine Emotion, die nahegeht, aber von einer Frau will niemand unangenehm berührt werden. Frauen sollen nähren, geben, pflegen – und schmücken. „Wütende Frauen sind hässliche Frauen“, schreibt Chemaly. „Eine Todsünde in einer Welt, in der sich die Sicherheit, der Ruhm und der Wert einer Frau für die Männer in ihrem Umfeld an ihrem sexuellen Nutzen und ihrer Fruchtbarkeit bemessen.“ 

Ich weiß, dass meine Wut oft so kraftvoll ist, dass sie anderen Menschen unangenehm ist. Ich fluche wie ein Kesselflicker, ohne Hemmungen. Ich habe kein Problem mit meiner Wut. Mein Problem ist, dass andere ein Problem mit ihr haben. Frauen gelten schon als „angry women“, als keifende Weiber, wenn sie Probleme nur ansprechen. Offen Kritik zu üben macht Frauen zu ­Meckerziegen und Männer zu guten Managern. Als kritische, anspruchsvolle Mitarbeiterin hatte ich in meinem ers­ten Job den Ruf weg, schwierig zu sein. Aus der Ohnmacht, so missverstanden zu werden, entstand Wut, die mich oft schnippisch werden ließ. Ein Selbstschutz, der mir sodann den Ruf bescherte, empfindlich und emotional zu sein. Eines war ich in den Augen meiner Kollegen jedenfalls nicht: sachlich.

Ich weiß, dass meine Wut oft so kraftvoll ist, dass sie anderen Menschen unangenehm ist.

Kristina Appel 

Die Nachteile der wütenden Frauen

Überhaupt werden wütende Frauen beruflich fast immer als weniger kompetent eingestuft. Wehe, Hillary Clinton hätte während des Präsidentschafts-Wahlkampfs 2016 nur einmal die Contenance verloren als Reaktion auf die distanzlosen, unprofessionellen Bosheiten ihres Gegners – niemand hätte sie mehr ernst genommen. Während das rote, wutverzerrte Gesicht Donald Trumps, seine brüllende Rhetorik, seine wütenden Beleidigungen ihn nicht am Einzug ins Weiße Haus hinderten. 
Ich liebe meine Wut, weil sie unmissverständlich ist und klar. Ich kämpfe jeden Tag mit Unsicherheiten: Bin ich gut genug? Stark genug? Soll ich? Kann ich? Wut ist eindeutig. Wenn ich wütend bin, weiß ich ganz sicher: Mir ist etwas zu nah gegangen. Dann fühle ich mich „angefasst“ (und manchmal wurde ich das buchstäblich). Sofort höre ich dann meine Eltern, Lehrer, Vorgesetzten: „Reg dich nicht auf. Lass das nicht so an dich ran.“ Aber warum eigentlich nicht? Es ist respektlos, meinen Zorn, meine Empörung so zu delegitimieren. Darf ich mich etwa nicht aufregen, nur weil ich eine Frau bin? Soraya Chemaly beschreibt wissenschaftliche Versuche, die deutlich machen, wie die Sozialisation von Frauen verläuft: Bockige kleine Mädchen sind noch süß, zornige Teenager schon bedenklich und wütende Frauen einfach peinlich (übrigens auch anderen Frauen). So bringen wir Frauen bei, sich so zu verhalten, dass sie gemocht werden – und nicht etwa respektiert.

Wut sorgt für Irritation. Gut so! 

Kein Wunder, dass die wütenden Frauen, die nun zum Beispiel durch die #MeToo-Bewegung überall auftauchen, für so große Irritation sorgen. Dabei war die Wut schon immer in uns, nur haben wir sie bislang für uns behalten. Rebecca Traister, Autorin des Buches „Good and Mad – The Revolutionary Power of Women’s Anger“ hat zum Beispiel lange versucht, ihren „Zorn aufzuhübschen“. Sie floh in Humor, bei Konflikten blieb sie höflich, sachlich, leise und „ästhetisch“. „Wir halten unser Selbst zurück“, schreibt auch Soraya Chemaly – unsere Stimme, unseren Einspruch, unsere Gefühle. Wir schlucken den Ärger runter, weil er nicht ladylike sind. Aber: Pupsen ist es auch nicht, und trotzdem ist es eine naturgegebene Notwendigkeit. Manches muss eben raus. Wir wissen, es bringt nichts, Dinge in sich hineinzufressen. Warum machen wir beim Zorn eine Ausnahme? Ärger, den man nicht auslebt, richtet sich irgendwann gegen einen selbst, sagt der buddhistische Mönch Haemin Sumin. Und das ist nun wirklich eine beschissene Alternative.

Ich bin wütend wegen so vieler Dinge

Eigentlich verstehe ich nicht, wie Frauen nicht ständig wütend sein können. Wie kann man nicht Ärger empfinden, dass ein ungebildeter, frauenfeindlicher Rassist eine Weltmacht regiert? Dass in unseren Nachbarländern Abtreibung verboten und eine deutsche Ärztin für jene Dienstleistung im Namen weiblicher Gesundheit und Selbstbestimmung vor Gericht gezerrt wird? Wie kann man nicht wütend darüber sein, dass Männer sich eine Zielgröße von null für eine Quotenvereinbarung setzen dürfen? Darüber, dass Frauen nicht das Gleiche verdienen wie Männer? Und darüber, dass John McEnroe Tennisschlä­ger wie am Fließband zertrümmern durfte, während Serena Williams nach einer einzigen Auseinandersetzung mit dem Schiedsrichter unsportliches Verhalten vorgeworfen wird? Im Grunde reicht es für eine gepflegte Wut schon, nur in seinen Alltag zu schauen: Haben Sie Ihrer Teenager-Tochter Pfefferspray für die Handtasche gekauft? Sind Ihre Gehaltsverhandlungen am Arbeitsplatz ins Leere gelaufen? Und sind Sie schon mal in Hamburg Rad gefahren?

Natürlich weiß ich auch, dass man seinem Ärger nicht immer sofort nachgeben sollte. Klar lohnt es sich im Alltag und vor allem im Job, seinen Zorn aus diplomatischen und professionellen Gründen auch mal im Zaum zu halten. Ich würde nie behaupten, dass es mir oder anderen guttut, rot zu sehen – also richtig auszuflippen und laut zu werden. Das ist blinder Zorn, hitzköpfige Aggression, die mehr blockiert als hilft. Die konstruktive Wut, die ich so liebe, speist sich aus Ungerechtigkeit, Enttäuschung und Schmerz; sie treibt uns an und gibt uns die Kraft, die Dinge zum Guten zu ändern – nicht nur für uns persönlich, sondern für alle.

Ohne weibliche Wut bewegt sich nichts in der Gesellschaft

Auch Rebecca Traister plädiert für mehr weibliche Wut, weil sie sicher ist, dass sich die Gesellschaft ohne sie nicht bewegt. Auch wenn die Geschichtsbücher es gern verschweigen, waren wütende Frauen oft die treibende Kraft hinter Revolutionen. Es waren hauptsächlich Frauen, die nach Versailles marschierten, um Brot für das Volk zu verlangen und damit die Französische Revolution initiierten. Es waren die Suffragetten, die das amerikanische Wahlrecht revolutionierten. Und auch Rosa Parks, die 1955 in den USA mit ihrer Weigerung, einem Weißen ihren Sitzplatz im Bus zu überlassen, die schwarze Bürgerrechtsbewegung auslöste, war keine stille, demütige Frau, sondern eine laute, wütende, engagierte Aktivistin. Ihr gewaltfreier Protest war wohlüberlegt, aber getrieben von blankem Zorn.
Vielleicht, stellt Rebecca Traister in „Good and Mad“ zur Diskussion, sei der Grund für die strukturelle und kontinuierliche Untergrabung und Delegitimierung der wütenden Frau, dass alle wissen, dass kein Stein auf dem anderen bliebe, wenn weibliche Wut ihre wahre Kraft entfalten würde. „Wenn wir uns nach Wandel sehnen, dann können wir es uns nicht länger leisten, die Wut der Frauen zu belächeln, zu fetischisieren, zu marginalisieren und uns davor zurückzuziehen“, schreibt sie. Gerade für Autorinnen, Aktivistinnen und Politikerinnen ist Wut eigentlich genau das richtige Werkzeug. Sie ist groß, sie ist echt, sie hat Energie und Intensität. Und: Sie transportiert Dring­lichkeit. Haben Sie Anja Reschkes Kommentar „Dagegen halten – Mund aufmachen“ gegen Fremdenhass gesehen? Oder die bewegende Rede von Emma Gonzalez, die das Schulmassaker von Parkland überlebte und sich auf dem „March for our Lives“ für schärfere US-Waffengesetze aussprach? Es ist doch drin­gend, oder? Dass sich etwas verändert?

Das große Potenzial unserer Wut 

Ja, ich bin wütend. Und ich bin es gern. Weil es dafür sorgt, dass andere erkennen, was mir wirklich am Herzen liegt. Wenn Wut dieses Potenzial hat, müssen wir uns doch alle wie Soraya Chemaly fragen: „Was geht uns alles verloren, indem wir der Wut von Frauen kein Gehör schenken und sie nicht respektieren? Und was würde wohl pas­sieren, wenn wir lernen, Gefühle geschlechtsunabhängig zu betrachten?“

Warum wird man hysterisch?

Als Ursache der Hysterie vermutete man ein Umherschweifen der Gebärmutter im Körper sowie ein starkes sexuelles Unbefriedigtsein. Eine das gegenwärtige Verständnis der Hysterie stark mitprägende Diskussion entstand Ende des 19. Jahrhunderts.

Was ist eine hysterische Frau?

Frauen, die unter Hysterie leiden, weisen diesem Krankheitsverständnis nach häufig bestimmte Persönlichkeitsmerkmale auf (ichbezogen, geltungsbedürftig, kritiksüchtig, unreflektiert etc.). Manche Erscheinungsformen der Hysterie wurden als subtiler Kampf gegen (männliche) Übermacht gedeutet.

Wann wird man hysterisch?

Die Psychoanalyse geht hierbei davon aus, daß bei einer Hysterie zu Störungen zwischen dem 4. und 6. Lebensjahrs kommt, wodurch erhebliche Fixierungen entstehen und das Kind versucht der Realität auszuweichen.

Was ist Hysterie nach Freud?

Die Hysterie ist eine überwiegend Frauen zugeschriebene Neurose. Nach Freud liegt ihr Grund in sexuellen Wünschen in der Kindheit, die verdrängt werden und sich in körperlichen Symptomen äußern. Die Leugnung eigener - sexueller - Wünsche bei der Hysterikerin ist insofern auch eine Spiegelung weiblicher Rollenklischees.

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