Ich muss so dringend aufs Klo ich kanns nicht mehr halten Geschichte

So weit das Auge reicht, so weit reichten auch die Autos, die die Autobahn füllten. „Muuum“, quengelte das junge Mädchen auf dem Rücksitz, die genüsslich schmatzend auf ihrem Kaugummi herumkaute, „Ich muss auf’s Klo.“ Ihr Vater seufzte, drehte das Radio ein wenig lauter und ignorierte sie gekonnt, während seine Frau sich zum Rücksitz umdrehte. „Wir fahren bei der nächsten Raststätte raus, ok?“, versuchte sie einen Kompromiss zu schließen, wofür sie jedoch nur ein Augenrollen erntete und die gehässige Antwort: „Wir stehen aber bereits seit Minuten und da vorne geht nichts voran! Wie willst du dann zur nächsten Raststätte kommen?!“ Sie ließ ihren Blick kurz nach draußen schweifen. Die ersten Rücklichter waren ausgegangen, Motoren wurden ausgeschalten und Köpfe neugierig durch die Fenster nach draußen gestreckt, um vielleicht einen Blick darauf zu erhaschen, was den Stau verursacht hatte. „Das dauert jetzt nur fünf Minuten, dann geht’s wieder weiter.“, erwiderte die Mutter, wurde jedoch von ihrem Mann mit einem genervten „Pscht!“ unterbrochen, welcher das Autoradio erneut ein wenig lauter drehte.

Ein kurzes Knacksen, dann ein Rauschen unterbrach das Hintergrundgedudel: „Wir unterbrechen kurz für eine wichtige Mitteilung. Auf der A3 Richtung Nürnberg ist ein Geisterfahrer unterwegs. Bitte fahren sie vorsichtig und überholen sie nicht.“ Der typische Nachrichtenton erklang, ehe die Durchsage endete. „Jetzt wohl nicht mehr ...“, murmelte der Fahrer und blickte auf die Autos vor ihm. „Wie meinst du das?“, entgegnete das junge Mädchen auf den Rücksitz, das sich für kurze Zeit von ihrer vollen Blase hatte ablenken lassen. „Entweder ist ein ganz anderer Streckenabschnitt gemeint oder der Geisterfahrer hatte wohl einen Unfall.“, kam es trocken von dem groß gewachsenen Mann mit den schwarzen Haaren, der unruhig mit den Fingern auf das Lenkrad trommelte. „Und dann kann das ganze hier noch Stunden dauern.“, fügte er hinzu und seufzte. „Aber ich muss auf’s Klo! Dringend!“ Der Mann verdrehte die Augen. „Dann geh halt ins Gebüsch. Der da vorne macht das selbe.“ Er zeigte auf ein älter aussehenden Trucker, der ohne jegliches Schamgefühl die Böschung runterpisste und danach zurück in seinen LKW stieg. „Aber Mum!“

„Du kannst doch unsere Tochter nicht einfach ins Gebüsch zum Pinkeln schicken..“, kam es notgedrungen von der kleiner Frau auf dem Vordersitz. Der Mann zuckte mit den Schultern und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den stehenden Autos zu. „Wart halt einfach noch ein bisschen. Vielleicht geht’s ja gleich weiter.“, versuchte die kleine Frau ihre Tochter zu beruhigen, die sich damit nicht wirklich zufrieden geben wollte und beleidigt darüber, dass ihrer Mutter kein sauberes Klo herzaubern konnte, aus dem Fenster starrte. Ruhe kehrte im Auto ein, während nur das Radio eine gewisse Hintergrundbeschallung ableistete und somit eine unangenehme Stille vermied.

Die ersten Menschen waren aus ihren Autos gestiegen, blickten sich in der Abenddämmerung neugierig um oder verschwanden im Gebüsch. Nur die wenigsten (ausschließlich Männer) hatten den Mut dem Trucker gleich zu tun und direkt vom Seitenstreifen nach unten zu pissen. Nach dem das Grundbedürfnis nach einer leeren Blase letztlich gesättigt worden war, kehrten auch sie wieder zurück zu ihren Fahrzeugen und schienen genauso ratlos darüber zu sein, was sie mit der frisch gewonnen Zeit der Zwangspause anfangen sollten, wie auch unsere kleine Familie im dem Ford Focus, dessen Radio noch immer vor sich hinspielte.

Piep. Piep. Pieep. „Es ist 21:00 Uhr. Sie hören die Nachrichten von Bayern 3. Immer topaktuell informiert!“ Die Stimme wechselte. Statt der Werbestimmen, die vermutlich auch Prostituierte versuchten nachzustellen, um irgendwo einzusteigen, erschallte nun ein durchaus annehmbare „Nachrichtensprecherstimme“, wobei klar war, dass eigentlich nur einer der Radiofunzis im Studio auf professionell tat: „Der Syrienkrieg weitetet sich weiter aus... bla bla bla“ Keiner der drei Personen im kleinen Ford interessierte sich für so etwas wie Weltgeschehen. Wozu auch? Was sie interessierte, war das Wetter und ob die Flüchtlinge ihnen wirklich die Arbeitsplätze wegnehmen würden.

„... Stau auf der A3 wegen eines Unfalls. Bitte umfahren Sie das Gebiet weiträumig. Eine gute Fahrt.“ Die Werbestimmte unterlegt von allerlei unnötigen „Sounds“ erklang wieder: „Immer topaktuell informiert mit Bayern 3!“

„Das kann ja noch ewig dauern...“, kam es ernüchternd vom Vater. „Aber ich muss Pipi!“ „Was soll ich denn machen, hm? Soll ich den Stau wegzaubern?“, entfuhr es dem stämmigen Mann, während seien Frau bereits in der Tasche nach Tempos kramte. Wildpinkeln war und ist in Deutschland eigentlich verboten und vermutlich hätte ein Polizist, der mitten in diesem Stau gestanden hätte, seine wilde Freude damit gehabt Ordnungsgelder zu verhängen und Beweisfotos aufzunehmen – zugegeben, bei den Beweisfotos vielleicht nicht allzu sehr. Doch letztlich ließ sich auch die Tochter dazu hinreißen oder besser das Bedürfnis, sich nicht in die Hose zu pinklen, war am Ende dann doch größer als der Wunsch nach einer Toilette. Aber wissen Sie, was an einem Stau so interessant ist? Die Menschen in ihm entwickeln eine gewisse Eigendynamik, weshalb die Freude des Polizisten sich vermutlich spätestens dann erledigt hatte, wenn ein facklentragender Mob vor ihm gestanden hätte.

Ein neues Geräusch mischte sich zum Hintergrundlärmpegel der Automotoren: Sirenen, weit entfernt, so weit, dass man noch nicht einmal deren Licht hätte entdecken können, hätte man denn gewollt, vermutlich vom Ende des Staus kommend. Rettungsgasse bilden. Und auch wenn der Verkehr und vor allem die Verkehrsteilnehmer nicht immer harmonierten, so klappte wenigstens das halbwegs: Die wenigen, die ausgestiegen war und an irgendwelchen Karosserien lehnten, sich zum Teil unterhielt und rauchten, drückten ihre Kippen schnell aus und schmissen sie achtlos weg, ehe sie zurück in ihre Autos stiegen und versuchten so gut wie möglich Platz zu machen, ohne dem Vordermann hinten drauf zu fahren.

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