»Tatort«-Abschied von Meret Becker Der letzte Tanz
Zwischen Absturzbar und Lesbenball: Als Nina Rubin verkörperte Meret Becker die Kreuzberger Späti-Variante unter den »Tatort«-Kommissarinnen. Nun absolviert sie eine aufwühlende Abschiedstour.
20.05.2022, 14.53 Uhr
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Kommissarin Rubin (Meret Becker, l.) mit Zeugin (Bella Dayne): Damenwahl
Foto: Hans Joachim Pfeiffer / rbbDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Letzte Blicke, letzte Küsse, letzte Tänze: Dies ist der finale »Tatort« von Meret Becker als Nina Rubin, und er kommt als maximal ausgereizte Abschiedszeremonie daher. Das ist nur gerecht; 15 Folgen lang verknüpfte Beckers Rubin am Rande des Nervenzusammenbruchs harte Recherche mit harten Sauftouren. Der reine Ermittlungsexzess.
Als Kreuzberger Nachtgewächs verstand es Rubin, den Job mit ihren persönlichen Süchten und Sehnsüchten zu kombinieren: Koksnäschen hier, Barhockergeknutsche dort, späterer Fetischsex nicht ausgeschlossen, und mittendrin Zeuginnen befragen. Manchmal machte die Kommissarin aber auch nur Überstunden auf Piste, weil zu Hause die Heizung kaputt war. Nina Rubin war von Anfang an die Späti-Variante unter den TV-Beamtinnen.
Rubin mit dem Kollegen Karow (Mark Waschke): Leiche ohne Kopf in der Spree
Foto: Hans Joachim Pfeiffer / rbbDeshalb spielt natürlich auch der lange »Tatort«-Abschied überwiegend nachts. Am schönsten ist dabei die Sache mit dem letzten Tanz gelungen: Rubin trifft sich mit einer Zeugin (Bella Dayne) auf einem Lesbenball in einem Kreuzberger Tanzcafé (das in Wirklichkeit das Café Keese in Charlottenburg ist, wo es tatsächlich regelmäßig solche Bälle gab). Die Szene ist in verheißungsvoll glimmendes Rot getaucht.
Die Frau will gegen ihren Ehemann aussagen, der einer russischen Mafiafamilie vorsteht, und verlangt dafür, in ein Kronzeuginnenprogramm aufgenommen zu werden. Um unter den lesbischen Frauen nicht aufzufallen, wechselt Rubin mit der Zeugin auf die Tanzfläche zwischen die anderen Pärchen; es läuft gerade »Liebe ist alles« von Rosenstolz.
Die Frau als Trophäe
Beamtin und Zeugin kommen sich sehr nahe, die Körper schmiegen sich aneinander. Plötzlich pfeift Rubin anerkennend und starrt auf den offenbar operierten Busen der anderen runter. »War er teuer?«, fragt die Polizistin. »Das machen alle Frauen in der Familie, ich habe da nicht drüber nachgedacht«, antwortet die Mafiabraut. Ein sonderbar aufgeladener Moment, weil zum Rosenstolz-Schmachtlied kurz tatsächlich die Möglichkeit einer Liebe zwischen den Frauen aufblitzt, während zugleich trocken der Trophäenwahn der Gangster-Machos verhandelt wird.
Denn die Geschäfte und Verbrechen der Russenmafia, der Bratwa, bilden hier das Plot-Mäntelchen, das luftig über den Rubin-Abgang gelegt wird: Am Anfang zieht die Kommissarin mit ihrem Kollegen Karow (Mark Waschke) einen entstellten, kopflosen Torso aus der Spree, der nach einigen gewieften forensischen Tricks als Leiche eines verdeckten Ermittlers identifiziert werden kann. Die Untersuchungen führen zum Clan von Yasha Bolschakow (Oleg Tikhomirov), dem Mann jener Frau, die bei Rubin Aufnahme in den Zeuginnenschutz gebeten hat. Im Folgenden gilt es weniger, den Mafiaboss des Mordes zu überführen als seine Frau aus seiner Villa zu holen, bevor er ihres Verrats gewiss wird.
Daheim im Bratwa-Neobarock
Wie tickt die Bratwa? In vielerlei Hinsicht erinnert dieser »Tatort« an Dominik Grafs Serie »Im Angesicht des Verbrechens« über russische Clans und ihre Kontrahenten bei der Polizei. Während die organisierte Kriminalität in dem Zehnteiler noch einen zwielichtigen Glanz ausstrahlte, ist der Bratwa-Neobarock im »Tatort« (Regie: Ngo The Chau, Buch: Günter Schütter) nur noch Kulisse für rohe Gewalt.
In einer Parallelmontage sehen wir, wie der Mafiaboss seine Frau ausfragt, während er beim Geschlechtsverkehr brutal in sie eindringt. Dann wird die Vergewaltigung mit einer Rückblende zu der regelrechten Abschlachtung des verdeckten Ermittlers gegengeschnitten; der Sex und der Mord folgen dem gleichen Rhythmus. Klar, die Filmemacher wollen uns zeigen, wie tief die Gewalt bei der Russenmafia in alle Lebensbereiche eingeschrieben ist, dass sie auch vor dem Schlafzimmer nicht haltmacht. Aber braucht es dazu eine derart ästhetisierte Vergewaltigungssequenz?
»Tatort«-Szene mit Mafiadarstellern: Gewalt im Bratwa-Neobarock
Foto: Hans Joachim Pfeiffer / rbbAls Mafiathriller bleibt der Krimi irgendwann in der exquisit fotografierten Hochglanzgewalt stecken. Und als Abschiedsgruß an die scheidende Kommissarin dreht er am Ende vor Rührung dann doch einige Schleifen zu viel.
In seiner melodramatischen Überhöhung erinnert die Farewell-Folge an jene, mit der sich Mehmet Kurtulus als Cenk Batu 2012 vom »Tatort« verabschiedete. Das war eine konsequent überhöhte Schmerzoper. Doch beim Rubin-Abgang kommt es in den tempo- und hindernistechnisch abstrus zugespitzten Fluchtszenen am Ende zu immer neuen bedeutungsschwangeren Finalmomenten, die man weniger und weniger glaubt. Letzte Blicke, letzte Küsse, Sie wissen schon.
Da ist man doch sehr erschöpft, als am Ende die unbedingt verdienten Abschiedstränen für Meret Becker fließen.
Bewertung: 6 von 10 Punkten
»Tatort: Das Mädchen, das allein nach Haus' geht«, Sonntag, 20.15 Uhr, Das Erste
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung haben wir Günter Schütter fälschlicherweise als Autor der Serie »Im Angesicht des Verbrechens« genannt. Wir haben die Passage korrigiert.
Foto: Martin Rottenkolber / WDR