Rilke und doch ist einer, welcher dieses fallen

Poetry
of
Rainer Maria Rilke

Vier Herbstgedichte

Herbst

Die Blaetter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gaerten;
sie fallen mit verneinender Gebaerde.

Und in den Naechten faellt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da faellt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Haenden haelt.

Rainer Maria Rilke  Paris, 11 September 1902

Four Autumn Poems

Autumn

The leaves fall, as from afar,
as if withered in heaven's remote gardens;
it is with reluctance that they fall.

And during the nights weighty earth falls
from all the stars into solitude.

All of us fall. This hand falls here.
And look at others: All of them fall.

But there is One, Who holds what falls
with infinite tenderness in His hands.

Translation: Charles L. Cingolani        Copyright © 2020

HerbsttagHerr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
Und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Fruechten voll zu sein;
Gieb ihnen noch zwei suedlichere Tage,
Draenge sie zur Vollendung hin und jage
Die letzte Suesse in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
Wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
Und wird in den Alleen hin und her
Unruhig wandern, wenn die Blaetter treiben.

Rainer Maria Rilke  Paris, 21 September 1902

Autumn DayLord, it is time. The summer was very great.
Lay Your shadow on the sundials,
And on the fields let loose the winds.

Command the last fruits to be full;
Grant them but two more southerly days,
Prod them to perfection and chase
The last sweetness into the heavy wine.

He who has no house now will build no other.
He who is alone now will stay so for long,
Will lie awake, read and write long letters
And on avenues wander back and forth
Restlessly, when the leaves are falling.

Translation: Charles L. Cingolani        Copyright © 2020

Ende des HerbstesIch sehe seit einer Zeit,
wie alles sich verwandelt.
Etwas steht auf und handelt
und toetet und tut Leid.

Von Mal zu Mal sind all
die Gaerten nicht dieselben;
von der gilbenden zu der gelben
langsamem Verfall:
wie war der Weg mir weit.

Jetzt bin ich schon bei den leeren
und schaue durch die Alleen.
Fast bis zu den fernsten Meeren
kann ich den ernsten schweren
verwehrenden Himmel sehn.

Jetzt reifen schon die roten BerberitzenJetzt reifen schon die roten Berberitzen,
alternde Astern atmen schwach im Beet.
Wer jetzt nicht reich ist, da der Sommer geht,
wird immer warten und sich nie besitzen.

Wer jetzt nicht seine Augen schliessen kann,
gewiss, dass eine Fuelle von Gesichten
in ihm nur wartet, bis die Nacht begann,
um sich in seinem Dunkel aufzurichten:—
der ist vergangen wie ein alter Mann.

Dem kommt nichts mehr, dem stoesst kein Tag mehr zu,
und alles luegt ihn an, was ihm geschieht;
auch du, mein Gott. Und wie ein Stein bist du,
welcher ihn taeglich in die Tiefe zieht.

Rainer Maria Rilke, 22.9.1901, Westerwede

End of AutumnI have seen for some time,
how everything changes.
A thing stands up and acts
and kills and causes pain.

From time to time all
the gardens are not the same;
from yellowing to yellow
to slow decay:
how long the way was for me.

Now I am already near the vacant ones
and look down the avenues.
Almost to the most distant seas
I can see the earnest weighty
forbidding skies.

Now the red barberries ripen alreadyNow the red barberry is ripening already,
aging asters breathe weakly in their bed.
He who is not rich now, with summer passing,
will always wait and never master himself.

He who cannot close his eyes now,
for him it is certain that an array of visions
is only waiting for the night to fall,
so he can be ministered to in his darkness:—
he has passed on like an old man.

To him comes nothing more, to him no more days are allotted,
and all things deceive him as to what will happen to him;
and You do too, God. You are like a stone
that pulls him down day for day into the deep.




Translation: Charles L. Cingolani                            Copyright © 2020

Was mich bewegt Rilke Text?

Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antwort hinein. Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Was ist besonders an Rilke?

Rilke ist eine der größten deutschsprachigen Dichterpersönlichkeiten zur Zeit der Jahrhundertwende. Durch und durch Lyriker, voll tiefer Innerlichkeit, Schwermut und Mystik, beseelt und durchgeistigt er die Sprache. Seine Verse fließen wie Musik dahin.

Wie die Blätter fallen?

Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde. aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Was lesen von Rilke?

Seine bekanntesten Werke sind die "Duineser Elegien", die zyklische Prosadichtung "Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Laurids Brigge" und der Roman "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge".

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