„Blut ist dicker als Wasser“, sagt das Sprichwort. Es gibt Zeiten im Leben vieler Geschwister, da scheint es nicht mehr zu gelten. Da haben Brüder und Schwestern nur noch sporadisch Kontakt, treffen sich vielleicht noch bei Feiern, sind aber ansonsten vor allem damit beschäftigt, sich im Beruf zu etablieren und eine Familie zu gründen.
„Das ist eine Phase, in der sich viele Geschwister aus den Augen verlieren“, sagt der Münchner Entwicklungspsychologe Hartmut Kasten.
Weit entfernte Wohnorte, unterschiedliche Erfahrungen im Beruf, möglicherweise ein Partner, den der Bruder oder die Schwester nicht mag, tun ihr Übriges. Und dennoch ist damit eine Geschwisterbeziehung nicht zu Ende: „Die Beziehung zu unseren Geschwistern ist die längste Beziehung unseres Lebens“, sagt Kasten.
Gemeinsame Kindheit als lebenslanges Band erhalten
Auch wenn sie nicht gepflegt wird, bleibt doch die gemeinsame Kindheit als lebenslanges Band erhalten. „Geschwisterbeziehungen können nicht beendet werden, sie wirken unterschwellig immer fort, auch wenn kein Kontakt mehr besteht“, sagt der Familienforscher.
Das kann im Alter ein Segen sein. Dann nämlich, so beobachtet die Geschwisterforschung, keimt in vielen Menschen der Wunsch, wieder enger mit den Geschwistern zusammenzurücken. „Sofern die Beziehung halbwegs intakt war, gibt es meist die Sehnsucht, sich wieder zusammenzutun“, sagt Thomas Hax-Schoppenhorst, Pädagoge und Buchautor aus Düren.
Manchmal sind es die äußeren Umstände, die Geschwister nach Jahren der Trennung wieder zusammenführen. Die Sorge um die Eltern beispielsweise, die möglicherweise pflegebedürftig geworden sind, könne die Nähe zwischen Geschwistern wiederherstellen, sagt Hax-Schoppenhorst.
Solch eine Situation bietet andererseits aber auch viel Raum für ambivalente Gefühle: „Wenn sich einer vor der Verantwortung drückt, dann ist gleich Sand im Getriebe“, sagt Kasten. Je besser die Chemie zwischen den Geschwistern in der Kindheit war, umso größer sei die Chance, dass sie auch jetzt wieder an einem Strang ziehen.
Schwelende Konflikte können sich explosionsartig entladen
Umgekehrt gilt: War in der Kindheit das Verhältnis nicht gut, dann drohen gerade in Krisensituationen alte Konflikte wieder aufzubrechen. „Oft resultieren sie aus der Ungleichbehandlung der Geschwister durch die Eltern“, ist die Erfahrung von Gestalttherapeutin Cordula Ziebell. Sie bietet zusammen mit ihrer Schwester Workshops an, in denen sich Schwestern allein oder gemeinsam mit ihrer Beziehung zueinander auseinandersetzen.
Konflikte, die jahrzehntelang schwelten, aber nie offen thematisiert wurden, können sich explosionsartig entladen, beispielsweise wenn es nach dem Tod der Eltern um das Erbe geht. „Dann steht man plötzlich vor den Scherben der Beziehung“, sagt Hartmut Kasten.
Er gibt zu bedenken: „Eltern tragen große Verantwortung dafür, dass ihre Kinder gut miteinander umgehen“ – das gilt auch dann noch, wenn die Kinder längst erwachsen sind.
Sei es, dass ein Konflikt Geschwister entzweit hat, sei es, dass sich ihre Lebenswege schleichend voneinander entfernt haben: Wer wieder Kontakt aufnehmen will, sollte alte Vorbehalte in den Hintergrund rücken. „Ich würde ja gerne, aber meine Schwester?“ – solche Sätze hört Cordula Ziebell oft in ihren Workshops. „Aber das transportiert die Botschaft, dass die andere sich ändern muss.“
Gemeinsame Erinnerungen sind ein gewaltiges Kapital
Stattdessen gelte es, die eigene Haltung zu reflektieren und die eigenen Bedürfnisse offen zu kommunizieren. Oft sei für den ersten Kontakt nach vielen Jahren ein Brief der bessere Weg als ein Gespräch, rät Hax-Schoppenhorst. Vergangenes sollte darin noch nicht aufgearbeitet werden: „Am besten äußert man erst einmal nur den Wunsch, sich zu treffen.“
Geschwister kennen einander oft in- und auswendig, auch nach jahrelanger Trennung. Das kann helfen, die Funkstille schnell zu überwinden. „Aber es kann auch sein, dass Dinge zutage treten, von denen man nichts gewusst hat“, sagt Hax-Schoppenhorst.
Denn in derselben Familie aufgewachsen zu sein bedeutet noch lange nicht, die Familie auf dieselbe Weise wahrgenommen zu haben. „Anzuerkennen, wie das Familienleben für die anderen Geschwister war, kann sehr heilsam sein“, sagt Ziebell.
Die Mühe lohnt nach ihrer Ansicht: Denn es sei ein großer Schatz, mit einem vertrauten Menschen alt werden zu können. „Eine funktionierende Geschwisterbeziehung im Alter ist etwas Wunderbares“, sagt auch Hartmut Kasten.
Die gemeinsamen Erinnerungen seien ein gewaltiges Kapital – eine Erfahrung, die auch all jene Geschwister machten, die von Kindheit an einen guten Kontakt bewahrt haben.
Frau Ziebell – Schneeweißchen und Rosenrot, Anna und Elsa, Tick, Trick und Track – Bücher und Filme sind voll von Geschwistern, die einander die engsten Vertrauten sind. Die Realität ist oft weniger märchenhaft. Was unterscheidet
Geschwisterbeziehungen von anderen Beziehungen?
Freundinnen und Freunde suchen wir uns aus, lernen sie erst einmal kennen und es entwickelt sich eine Freundschaft. Geschwister sind einfach da und wir müssen irgendwie mit
ihnen zurechtkommen. Geschwister kennen wir außerdem von früh auf. Sie sind das erste Team, das wir haben, wir lernen mit ihnen soziale Kompetenzen und entwickeln durch das Ringen um einander und um die Anerkennung der Eltern unseren Charakter.
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