Predigt über Dtn 6,4-9 am 01.11.2015 (22. So. n. Trinitatis)
in der Heidelberger Peterskirche
Prof. Dr. Jan Christan Gertz
Liebe Gemeinde,
am heutigen Sonntag nach dem Reformationsfest hören wir einen Text aus dem 5. Buch Mose. Das Buch ist als Moses Abschiedsrede am Vorabend der Überquerung des Jordan nach 40 Jahren Wüstenwanderung stilisiert. Seine ursprünglichen Adressaten lebten im babylonischen Exil. Unserem Text geht die Erinnerung an die Bekanntgabe der 10Gebote voran, es folgt eine lange Predigt des Mose, die immer wieder aufs Neue zum Gehorsam gegenüber den Geboten auffordert. Ich lese aus dem 6. Kapitel die Verse 4-9.
Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer! Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.
Kaum ein Text des Alten Testaments spielt im Glauben und Denken des Judentums eine so hervorragende Rolle wie diese sechs Verse. Sie sind die Grundlage des jüdischen Glaubensbekenntnisses. Zusammen mit zwei weiteren Zitaten aus dem Alten Testament bilden sie das nach den beiden ersten Worten unseres Textes benannte Šema Jisrael. Das „Höre Israel“. Von einigen Segensworten gerahmt, wird es morgens und abends von frommen Juden rezitiert. Es ist das erste Gebet, das jüdische Kinder traditionellerweise lernen, und das letzte das Sterbende sprechen oder das ihnen nachgerufen wird. Mit diesem Gebet auf den Lippen starben die jüdischen Märtyrer durch die Jahrhunderte bis hin zu den deutschen Vernichtungslagern. Der Talmud, die zum Riesenwerk geronnene rabbinische Diskussion über die Auslegung der Bibel, beginnt mit der Frage, wie denn das Šema Jisrael zu sprechen sei: Stets hörbar, mit einer starken Betonung auf dem Wort „einer“, dem Schlussakkord des ersten Satzes. Und es wird auf eine besondere Weise geschrieben. Im hebräischen Bibeltext werden der letzte Buchstabe des ersten und des letzten Wortes des Eingangsverses durch besonders große Buchstaben herausgehoben. Zusammengelesen ergeben sie die Wörter ʾed „Zeuge“ oder ʾad „Ewigkeit“. Die Beter des Šema Jisrael sind „Zeugen der Ewigkeit“. Für den Talmud bedeutet diese Zeugenschaft, „das Joch des Gottesreichs auf sich zu nehmen“ (Berakot II,1), denn das Bekenntnis zu Gott als König der Welt beinhaltet nach unserem Text auch das Leben in den Weisungen Gottes, sprich der Tora. Deren Weisungen betreffen das Äußere wie das Innere. Treten wir in jüdische Häuser ein, dann entdecken wir auch die Mezuzah am Türrahmen, Kapseln mit den Worten des Šema Jisrael – ganz so wie der Text es verlangt. Wir alle kennen Bilder von jüdischen Männern, die sich Tefillin um Arm und Kopf binden, Gebetsriemen mit kleinen Kapseln, die wie vom Text gefordert das Šema Jisrael enthalten. Soweit die Außenseite, deren Innenseite die ständige gegenwärtige Forderung ist, den einen Gott Israels mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzer Kraft zu lieben. Kurzum, das „Höre Israel“ ist das Herzstück jüdischer Torafrömmigkeit.
Wie aber kommen wir dazu, diesen jüdischen Text schlechthin, von christlichen Kanzeln zu predigen? Ist das angemessen im Hinblick auf den Umgang mit dem Judentum und im Hinblick auf das Selbstverständnis des evangelischen Christentums? Enteignen wir nicht das Judentum, wenn wir das „Höre Israel“ christlich predigen? Predigen wir aufrichtig, wenn wir einen Text auf uns beziehen, der prononciert mit dem Aufruf „Höre Israel“ beginnt? Die Frage treibt die Christenheit seit ihren Anfängen um. Sie ist auch nicht ganz leicht zu beantworten. Zwei beinahe beliebige, aber mit Bedacht ausgewählte Stimmen: 1921, dem Jubiläumsjahr von Luthers denkwürdigen Auftritt auf dem Wormser Reichstag, zieh Adolf von Harnack, Ordinarius für Kirchengeschichte in Berlin und als Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek und Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft seinerzeit einer der einflussreichsten Organisatoren im Wissenschaftsbetrieb, den Reformator der schicksalshaften Inkonsequenz. Luther habe nur aus „Tradition und Gewohnheit“ am Alten Testament festgehalten. Andererseits lässt das Kirchenamt der EKD begleitend zur neuen Perikopenordnung verlauten, dass die Zahl der Predigttexte aus dem Alten Testament verdoppelt wurde, um dem gewachsenen Bewusstsein für seine Bedeutung auch in der christlichen Predigt Rechnung zu tragen.
Was soll man davon halten? Gibt es dieses Bewusstsein außerhalb der einschlägig engagierten Kreise überhaupt? Immerhin hatte Harnack seine Geringschätzung des Alten Testaments auch damit begründet, dass, wie er schreibt, „die größte Zahl der Einwendungen, welche ‚das Volk’ gegen das Christentum und gegen die Wahrhaftigkeit der Kirche erheb[t], aus dem Ansehen [stammen], welches die Kirche noch immer dem AT gibt“. Nun sollten wir immer besonders kritisch hinhören, wenn mit Stimmungen schwer fassbarer Größen wie dem Volk argumentiert wird. Häufig genug versteckt sich hinter dem „Volk“ oder einem „gegenwärtigen christlichen Bewusstseins“ nur das eigene fremdelnde Ich. Gleichwohl muss ich Harnack schon zubilligen, dass er etwas anspricht, was sich vielfach beobachten lässt. Nach landläufiger Meinung steht das Alte Testament für einen strafenden, zornigen und mitunter zu Gewaltexzessen neigenden Gott, dessen Gebote eine skurrile Frömmigkeit befördern. Dagegen scheint sich der Titel „Der Liebende“ zumindest in unserer christlich-nachchristlichen Mehrheitsgesellschaft nahezu selbstverständlich auf den Gott des Neuen Testaments zu beziehen. Und sind wir nicht alle für Liebe und gegen Gewalt?
Ich will den alt-neuen Berliner Streit um die Frage, ob das alte Testament denn überhaupt zum Grundbestand der heiligen Schriften des Christentum gehört und der in den letzten Monaten einiges Blätterrauschen in den Feuilletons verursacht hat, eigentlich nicht noch einmal aufwärmen. Es ist aber nun einmal so, dass ein Predigttext wie der unsrige, es nachgerade unmöglich macht, sich nicht über das Verhältnis des evangelischen Christentums zum Alten Testament zu äußern.
„Du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft.“ Lieben auf Befehl! Was soll das heißen? Schon liegt mir das Vorurteil auf der Zunge: Auf eine solche Idee konnten nur die Verfasser des Alten Testaments kommen. Wussten sie denn nicht, was es mit der Liebe auf sich hat? Hatten Sie kein Gespür für die Tiefe der Empfindung oder gar die Unverfügbarkeit der Liebe? Textkenntnis hilft gegen Vorurteile, und siehe da, sie hatten es sehr wohl. So steht im Hohelied: „Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme Gottes.“ (Hld 8,6) Und der Weise wundert sich: „Drei Dinge sind mir zu wundersam, und vier verstehe ich nicht: der Weg des Adlers am Himmel, der Weg der Schlange auf dem Felsen, der Weg des Schiffes mitten im Meer und der Weg des Mannes zur jungen Frau.“ (Prov 30,18f) Wie kann eine derart tiefgehende Emotion, deren Wesen so rätselhaft ist, anbefohlen werden? Hilfreich ist die Gegenprobe. Lässt sich Liebe verbieten? Diese Frage zieht sich durch unsere ganze Kulturgeschichte. Alle Versuche enden tragisch. Vor einigen Jahren lief bei den Filmfestspielen in Cannes ein israelischer Film über die Liebe zwischen zwei Männern. An sich nichts Neues, bis auf die Tatsache, dass es sich um die erotische wie emotionale Liebe zweier ultraorthodoxer jüdischer Männer handelt. Der Originaltitel lautete „Geöffnete Augen“, die deutsche Fassung lief als „Du sollst nicht lieben“ – eine nicht ganz so subtile Gegenüberstellung, in der die gesellschaftliche und religiöse Konvention einschließlich des Gebotes, Gott zu lieben, zur lieblosen Zwangsveranstaltung wird. Lässt sich Liebe verbieten? Nein! Kann es eine Pflicht zur Liebe geben? Sollen wir Kindern auferlegen, ihre Eltern zu lieben, selbst wenn diese dazu keinen Anlass bieten? Müssen wir Gott lieben? Die Antwort kann eigentlich nur ein dreifaches Nein sein. Wenn das so ist, was soll dann dieses Gebot und was heißt es eigentlich „Gott zu lieben“?
In den Evangelien wird erzählt, daß Jesus auf die Frage eines Schriftgelehrten, welches das höchste Gebot sei, geantwortet habe: „Das erste ist das: ,Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften‘. Das andre ist dies: ,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘. Es ist kein anderes Gebot größer als diese“ (Mk 12,29ff par). Mit dieser Auskunft fühlen wir uns gleich auf sicheren protestantischen Terrain, vor allem dann wenn wir noch die Reaktion des Schriftgelehrten hinzunehmen: „Schön hast du das gesagt, Meister, und du hast Recht! Einer ist er, und einen anderen außer ihm gibt es nicht und ihn lieben mit ganzem Herzen und mit ganzem Verstand und mit aller Kraft und den Nächsten lieben wie sich selbst — das ist weit mehr als alle Brandopfer und Rauchopfer.“
Bemühen wir noch ein letztes Mal die landläufige Meinung, dann dürfte das „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ für die meisten Zeitgenossen den Kernpunkt christlich-neutestamentlicher Ethik markieren. Das ist sicher nicht falsch, aber es ist in der üblichen Entgegensetzung von Altem und Neuen Testament auch nicht richtig. Denn auch das Gebot, den Nächsten zu lieben, ist ein Gebot des Alten Testaments. Auf welche anderen Traditionen hätte sich Jesus sonst auch beziehen sollen! Was hat es aber mit der Nächstenliebe konkret auf sich, vor allem dann, wenn auf einmal die Fernen und die Fernsten nach langen Märschen die bedrängend Nächsten geworden sind? Muss ein inflationärer Begriff der Liebe, deren Wert nicht herabsetzen, ohne dass die Not wirklich gelindert wird? Was ist hier gefordert? Ist uns hier der Überschwang der Liebesrhetorik abverlangt? Oder ist es die pragmatische Hilfe für diejenigen, die in Not geraten sind und die schlicht das erhoffen, was wir in einer ähnlichen Situation von unseren Nächsten erhoffen würden? Mit dem Alten Testament gefragt: Gibt es mit Blick auf unser Verhalten zu Gott und dem Nächsten eine Liebe ohne Gebot?
Jesus verbindet das Gebot der Gottesliebe mit dem der Nächstenliebe. Darin erweist er sich als ein guter Lehrer Tora. Denn die Verbindung der beiden Gebote der Gottes- und Nächstenliebe war im Alten Testament schon längst vorgespurt. Das haben neben Jesus auch die Rabbinen erkannt. Für Jesus wie die Rabbinen ist Gottesliebe ohne Nächstenliebe leer. Darauf können wir uns vermutlich schnell verständigen. Gottesliebe ohne Nächstenliebe ist eine hohle Phrase und hinterlässt bestenfalls einen schalen Geschmack. Liebe ist nach dem Verständnis der Bibel kein bloßes Gefühl oder ein frommer Gedanke. Sie schließt stets ein liebendes Verhalten ein. Befragen wir noch einmal unseren Predigttext, was es mit der Forderung, Gott zu lieben, auf sich hat, dann wird schnell deutlich, dass es hier nach der Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten weder um die romantische Liebe noch um die Diktatur des moralisch-kulturellen Über-Ichs geht. Die Liebe im Šema Jisrael ist eine Kategorie, die aus dem Vertragsrecht stammt und die wir vielleicht am besten mit unserem Begriff der „Loyalität“ wiedergeben. Der dahinter stehende Gedanke ist ganz einfach: Gott ist der Gott Israels weil er Israel aus Ägypten befreit hat. Er hat sich loyal verhalten, aus diesem Grund kann er Loyalität verlangen. Und worin besteht diese Loyalität? Sie besteht darin, sich dem Nächsten gegenüber so zu verhalten, wie wir es für uns selbst einfordern und wie wir es selbst erfahren haben. Natürlich sind wir nicht das aus Ägypten befreite Israel. Aber wir können unser Altes Testament als vielstimmiges Zeugnis für die unbedingte Loyalität Gottes lesen. Natürlich brauchen wir uns nicht an die Einzelgesetze des Alten Testaments zu halten. Aber wir können mit dem Alten Testament den Zusammenhang von Liebe und Gebot einüben. Das Alte Testament ist hier deutlicher, vielleicht auch lebensklüger als das Neue. Seine Verfasser hatten immer auch die alltäglichen Belange eines Gemeinwesens vor Augen, die sich nicht allein mit wohlklingender Rhetorik oder Gefühlsduselei regeln lassen. Diesen Pragmatismus in religiöser Sprache sollten wir nicht gering schätzen. So oder so, die Grundeinsicht unseres Predigttextes zieht sich durch die Bibel hindurch und gilt auch uns: Wer sich von Gott geliebt weiß, kann gar nicht anders, als auch Gottes Geschöpfe zu lieben. Mit den Worten des 1. Johannesbriefs: „Geliebte, lasst uns einander lieben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe.“
Amen